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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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langen, eleganten Beine und dessen, was er zwischen ihnen hatte. Die Kirchenglocken läuteten unermüdlich, sie läuteten das Zusammenfügen der beiden Hälften – Mann und Frau – ein. Ich dachte: Sie läuten wie bei Kriegsende. Sie glauben, alle Soldaten sind wieder zu Hause. Sie wissen nicht, daß ich noch draußen im Schlamm bin, im Niemandsland.
    Als die Glocken zu läuten aufhörten, wußte ich, daß nun gleich Lindsey kommen würde, daß ich meinen kurzen Blick auf sie werfen konnte. Sie betrat die Kirche. Einen Moment lang blieb sie an der Tür stehen, Arm in Arm mit ihrem Vater, Mr. Stevens. Sie zitterte. Ihr langes Haar war kunstvoll zu einer Art Krone aufgesteckt, als wäre sie eine Prinzessin, und aus dieser Krone fiel ihr ein Schleier übers Gesicht. Ich hatte nicht an den Schleier gedacht, sondern geglaubt, ihr Gesicht sehen und es mir für immer einprägen zu können. Ich griff in die Manteltasche und öffnete mein Päckchen »Originalkonfetti für den großen Tag«. Ich würde noch so lange warten,bis ich das Konfetti über sie streuen konnte – meine tausend Stückchen Liebe –, und dann zum Bus gehen.
    Ich bekam nicht viel von der Zeremonie mit. Nur ein Echo aus weiter Ferne. Ich hatte den Wunsch, die Schuhe auszuziehen und das Wasser auszuleeren. Mir gefiel das quatschende Geräusch nicht, wenn ich meine Füße bewegte. Ich dachte: So ähnlich klingt es, wenn Lindsey und Ranulf in Ekstase sind. Das ist es, was Ramona, die spanische Köchin, durch die dünne Wand mit anhören mußte.
    Von den Schultern meines Mantels stieg jetzt Dampf auf. Und ich hatte einen Bärenhunger. Ich wußte, daß es beim Empfang Königinpastetchen mit Shrimps, Cheddar-Käse und Cocktailspieße mit Ananas geben würde, und ich dachte: So ist das im Leben. Schon die kleinsten Dinge locken uns von unserem gewählten Pfad. Wir verdienen den Tod.
    Als ich wieder einmal von meinen quatschenden Schuhen aufsah, kamen Lindsey und Ranulf gerade lächelnd durchs Hauptschiff. Die Orgel spielte einen Marsch. Jetzt konnte ich Lindseys Gesicht sehen, jeden einzelnen ihrer strahlenden Zähne und den leuchtenden Schimmer auf ihrer Haut. Doch ich konnte auch Ranulfs Gesicht sehen – zum erstenmal –, sein glückliches Gesicht neben dem Lindseys, das Gesicht jenes Mannes, den sie im Alter von sechzehn Jahren siebenmal in ihrem Erdkundebuch geheiratet hatte. Ich war erschüttert. Er hatte kein hübsches Gesicht. Er war wachsbleich und hatte engstehende Augen und dicke Backen. Sein Gesicht war fast fett. Und Lindsey hatte ihn als einen Gott beschrieben. Sie hatte gesagt: »Ich sehe in ihm einen griechischen Gott, Mary.« Und ich hatte ihr nie widersprechen können. Ich hatte nie entgegnen können: Im großen und ganzen, Lindsey, hatten die Griechen kein Doppelkinn. Jetzt fragte ich mich, ob sie vielleicht die Römer gemeint hatte. Römische Kaiser? Sie war nie gut in Geschichte gewesen. Sie glaubte, Michelangelo habe in biblischer Zeit gelebt. Und sie glaubte, die Fürstin Boadicea sei eine Phantasiegestalt wie Mrs. Danvers.
    Nun, ich hatte meinen Blick gehabt. Der Anblick von Ranulfs gedrungenem Gesicht hatte mir den Appetit auf Königinpastetchen mit Shrimps geraubt. Ich wollte gehen. Ich holte mein Päckchen heraus und schüttete mir eine ordentliche Portion Konfetti in die Hand. Dabei dachte ich: Dieses Zeug wird im Regen zu einem rosagelben Matsch, zu einer Schweinerei, Erbrochenem sehr ähnlich. Rinaldo, der Fahrkartenlocher, hatte immer darauf achten müssen, daß es trocken blieb. Das war für ihn kein Problem, da über ihm die Glaskuppel des Bahnhofsdachs war, so daß auf ihn und seine Erfindung nur Licht fallen konnte.
    Am Tag von Lindseys Hochzeit sollte sich mein Leben ändern. Ich wußte es nur noch nicht.
    Im letzten der Busse auf der Rückfahrt dachte ich nach, nicht über Ranulf, sondern über Edward Harkers Theorien über mein früheres Leben. Ich wünschte, ich säße in Harkers Keller auf dem Antriebskopf der Drehbank und könnte ihm zuhören, wie er den Talmud, Aristoteles oder seinen Lieblingsschriftsteller Schalom Asch zitierte. Im Talmud heißt es, daß der geizige Mann dadurch gestraft wird, daß er als Frau wiedergeboren wird. Aristoteles glaubt an die Unsterblichkeit der Seelen. Er beschreibt den Aufenthalt der Seele im Körper als Krankheit. Und Schalom Asch sagt, daß die Seelen, wenn das Gesetz von der Seelenwanderung stimmt, erst durch ein Meer des Vergessens müssen, bevor sie vom einen Körper in einen

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