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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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seine alte Leidenschaft für sie aufbringen. Doch nicht übertreiben, sagte er sich. Laß es nicht wie eine Flut zurückkehren, weil du sonst ertrinkst, wenn Estelle wieder eine ihrer verrückten Anwandlungen bekommt und über die Felder wandert und dich nicht an sich ranläßt.
    Er wußte an keinem Abend im voraus, wie sie sich verhalten würde. Er wartete einfach in dem großen Eisenbett, dessen Matratze von all den Jahren ausgehöhlt war. Wenn sie ihre Periode hatte, legte sie sich ans andere Ende des Bettes und rollte sich wie ein Kind zusammen, als wäre sie verwundet. Dann, wenn diese vorüber war, lag sie entweder von ihm abgewandt auf dem Bauch, oder aber sie suchte nach seiner Hand, ganz gleich, wieviel er am Abend getrunken hatte, schob damit ihr Nachthemd hoch und sagte: »Du kannst es tun, Sonny. Ich möchte, daß du es tust.«
    An jenem Abend, als er die Hühner still auf dem Feld hatte stehen sehen, drehte sich Estelle Sonny zu. Er dachte, sie würde seine Hand nehmen und ihr Nachthemd hochschieben, doch das tat sie nicht. Sie lag ganz ruhig da und sagte zu ihm: »Sonny, ich habe Marys Zimmer gestrichen.«
    »Ja«, erwiderte er. »Du hast es grau gestrichen.«
    »Ich habe es inzwischen noch einmal gestrichen.«
    Sie denkt, ging es ihm durch den Kopf, sie kann Mary übermalen. Ihm lag auf der Zunge zu sagen: Mit Farbe allein kannst du sie nicht auslöschen, Estelle. Da braucht es etwas viel Drastischeres, denn jetzt zaubert sie auch noch. Doch er schwieg.
    Estelle fragte: »Schaust du dir das Zimmer mal an?«
    »Aber sicher! Ich sehe es mir morgen an. In welcher Farbe hast du es denn diesmal gestrichen?«
    »Schau es dir jetzt an!«
    Er wollte nicht sofort hingehen. Er hoffte vielmehr, sogleich mit Estelle zu schlafen, ja er wollte sie sogar zwingen, ihn anzusehen und sich auf den Mund küssen zu lassen. Es hatte einmal eine Zeit gegeben – vor Marys Geburt –, da hattesie zu ihm gesagt: »Küssen ist schön. Findest du nicht auch, Sonny?« Er stand auf. Er hatte Starkbier getrunken, mehrere Flaschen, und wäre jetzt lieber nicht gelaufen.
    Sonny ging über den Flur. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letztemal in Marys Zimmer gewesen war. Er merkte plötzlich, daß er eigentlich gar nicht mehr an die Existenz dieses Zimmers glaubte. Er dachte vielmehr, daß die Tür nur eine Attrappe war.
    Er öffnete sie und knipste das Licht an. Es war ein Zimmer dahinter. Es war kühl darin und roch nach frischer Farbe. Sonny starrte auf die Wände, die blaßblau waren wie der Himmel im Mai. Dann sah er, daß alles in diesem Zimmer, alles, was Mary zurückgelassen hatte – die Holzkommode, das Bett, der Nachttisch und der Stuhl – auch blau gestrichen war.
    Er blinzelte. Estelle hat meinen Augen einen Streich gespielt, sie macht sich über mich lustig, dachte er.
    Dann hörte er einen fremden Klang. Dieser war angenehm und hübsch. Er schien von weit her zu kommen, doch Sonny wußte, daß er nicht weit weg, sondern irgendwo im Raum war. Als er zur Decke schaute, sah er dort etwas hängen. Es war ein hölzerner Querbalken, wie ihn Marionetten hatten. Daran hingen Fäden, und an diesen kleine ovale Objekte, die aussahen wie Scheidewände von Mondviolenschoten aus dünnem Glas. Diese kleinen Schalen bewegten sich im Luftzug, der durch das Öffnen der Tür entstanden war, und ihr Aneinanderstoßen verursachte diesen hellen, scheinbar aus weiter Ferne kommenden Klang.
    Sonny konnte sich nicht vorstellen, woher dieses Ding stammte und wozu es diente. Er bewegte die Tür hin und her, immer wieder hin und her. Eine ganze Weile stand er so da und schaute und lauschte.
    Als er ins Schlafzimmer zurückkam, sagte er zu Estelle: »Was ist das? Dieses Ding mit dem Klang?« Doch sie antwortete nicht. Sie lag am anderen Ende des Bettes und schlief oder tat so, als ob sie schliefe. Sonny konnte es nicht sagen.

Mary:
    Lindsey und Ranulf heirateten im Herbst. Sie hatten geglaubt, die wunderbare Szene würde dann in ein goldenes Licht getaucht sein wie auf den Gemälden von Samuel Palmer. Sie hatten vergessen, daß im Oktober heftige Regenfälle und schneidende Ostwinde an der Tagesordnung waren.
    Ich fuhr mit dem Bus zur Hochzeit und mußte dreimal umsteigen. Es regnete so heftig, daß die Feuer auf den Stoppelfeldern erloschen. In den Bussen stank es nach Zigaretten und durchnäßtem Tweed. Im zweiten dachte ich: All das nehme ich auf mich, weil ich sehen möchte, wie schön Lindsey in ihrem Kleid ausschaut. Mit anderen

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