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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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– geradeso, als hätte sie sich auf einem Schiff voller Leute, voller Narren wiedergefunden undsie wären alle zusammen, sicher und lebendig, draußen auf dem weiten Ozean.
    Die Wände ihres möblierten Zimmers waren grün. Das war nicht gerade Marys Lieblingsfarbe. Sie wünschte, sie hätte ein paar ihrer Pauszeichnungen von den Messingtafeln oder einige ihrer alten marmorierten Blätter, um sie aufzuhängen. Sie überlegte, ob man sie wohl rauswerfen würde, wenn sie das Zimmer weiß-grau tünchte.
    Das Bett darin war recht groß, groß genug für zwei Personen. Kopf- und Fußteil waren aus poliertem Mahagoni, und die Matratze hatte eine Kuhle in der Mitte. Im ersten Monat lag sie auf der einen Seite. Doch dann belegte sie die Kuhle mit Beschlag. Sie dachte bei sich: Von jetzt an nehme ich die Dinge in Besitz und mache sie mir zu eigen.
    Mary kaufte zwei Dosen Farbe, eine mit grauer und eine mit weißer. Sie klopfte bei dem Nachbarn in der gegenüberliegenden Wohnung an und fragte ihn, ob er eine Leiter habe. Er antwortete: »Nein, Mädchen, hab ich nicht.« Er war Südafrikaner, doch sein Gesicht war taghell. »Wozu brauchst du denn ’ne verdammte Leiter?« wollte er wissen. Mary erzählte ihm von den bevorstehenden Malerarbeiten. Er stellte sich als Rob vor. Er war jung und dünn und hatte mittelblondes Haar. Mary fragte: »Was machst du denn in London?« Rob antwortete: »Ich wohne hier.« Das Wort »wohne« klang wie »wonne«. Er fügte hinzu: »Im Augenblick gebe ich ein Gedichtmagazin heraus.« Mary sagte: »Oh, das finde ich gut!« Sie dachte, daß Miss McRae bestimmt die einzige Person in Swaithey war, die je von einem Gedichtmagazin gehört hatte.
    »Tut mir leid, das mit der Leiter.«
    »Ach, das ist schon okay. Wenn ich mein Zimmer gestrichen habe, lade ich dich mal zu einem Kaffee ein. Wir bekommen da, wo ich arbeite, ab und zu ein Päckchen geschenkt.«
    Sie strich das Zimmer, indem sie sich auf einen Bücherstapel stellte, den sie auf einen Stuhl gelegt hatte. Zwei Wände tünchte sie weiß und zwei grau. Als sie fertig war, sahen alle vier gleich aus. Es lag an dem trüben Licht.
    Mary kaufte sich Jeans, zog sie an und warf alle ihre Röcke aus dem Fenster in den rußigen Lichtschacht. Sie konnte sie unten in der Tiefe liegen sehen: Selbstmordröcke.
    Sie kaufte die Jeans in einem Laden in der King’s Road mit gleißendem Licht und heißer Musik. In dem Gemeinschaftsumkleideraum schmollten langbeinige Mädchen ihr Spiegelbild an. Kein Fabrikat und kein Stil war für Mary richtig; sie war zu klein. Doch der Denim in ihrem Schritt fühlte sich hart und potent an. Sie kam sich größer vor, als sie war. Von den Jeansbeinen schnitt sie zwanzig Zentimeter ab. Sie hatte gesehen, daß sie so getragen wurden – unten ausgefranst. Wenn sie gewaschen werden mußten, legte sie sich mit ihnen in die Badewanne und seifte sie ein. Dabei hing sie ihren Träumen von blaßlippigen, schwarzäugigen Mädchen in ärmellosen Sackkleidern nach, deren Haare toupiert waren und nach Haarspray dufteten. Sie ließen sie an ihren dunklen Brustwarzen saugen und sagten: Laß uns Spaß haben, Martin.
    Sie hatte immer noch nicht den Tower von London gesehen. Sie kannte nur einen kleinen Teil der Stadt. Der Rest wartete darauf, daß sie einmal Zeit für ihn haben würde. Mary kaufte sich von den Orten, an denen sie nicht gewesen war, Postkarten – von der Königlichen Münze, dem Observatorium in Greenwich, der Carnaby Street und der Petticoat Lane – und hängte sie sich an die grau-weißen Wände. Vermutlich konnte man sein ganzes Leben in London verbringen, ohne sich all das je anzusehen.
    Sie schrieb an Miss McRae und Cord. Sie dachte: Wie seltsam ist es doch, daß die beiden einzigen Leute, denen an mir etwas liegt, einundsiebzig sind. Beiden schrieb sie: »Gleich am Anfang ist mir aufgefallen, daß die Leute in London meist jung zu sein scheinen. Ich weiß nicht, wo die ganzen älteren Menschen geblieben sind. Wahrscheinlich sind sie nach Suffolk oder High Wycombe gezogen. Der einzige alte Mensch, den ich jeden Tag sehe, ist der Zeitungsverkäufer am U-Bahnhof Earl’s Court. Er ruft ein zweisilbiges Wort schon so langeaus, daß es ein völlig anderes zweisilbiges Wort geworden ist, wie bei der ›Stillen Post‹. Ich weiß nicht, womit er angefangen hat, aber vielleicht nehme ich mal all meinen Mut zusammen und frage ihn danach. Dann könnte er zu diesem Wort zurückkehren. Manchmal ist es ja so, daß das, was man

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