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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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einem Dreitagebart. Er suchte mich und verschaffte sich gewaltsam Zutritt zum Haus. Er brüllte meinen Namen und sagte, er wolle mich holen, weil ich eine Hexe sei. Ich würde einen Zauberbann über sein Land legen und seine Hühner vergiften. Er sei gekommen, um mir die Leviten zu lesen, ein für allemal.
    Er drückte Miss McRae an die Wand und schüttelte sie. Er beschuldigte sie, einen bösen Menschen, eine Anhängerin der Schwarzen Kunst, zu verstecken. Sie hatte Angst, dachte jedoch daran, daß sie in einem Leuchtturm aufgewachsen war und schon viele Stürme überstanden hatte, und blieb ruhig. Sie sagte: »Mr. Ward, Sie irren sich da gewaltig. Mary ist ein ganz gewöhnliches Mädchen.«
    »Ein ganz gewöhnliches Mädchen?« schrie er. »Genau das ist sie nicht! Sie ist eine perverse Hexe, und ich bin gekommen, um all dem ein Ende zu bereiten!«
    Ich fragte Miss McRae, ob er eine Waffe, ein Messer, einen Hammer oder etwas Ähnliches bei sich gehabt habe. Sie sagte: »Nein, Mary. Nur seine Hände.« Dabei ballte sie ihre Hände zu Fäusten und hob ihre dünnen Arme wie ein Schattenboxer. Mit der einen Hand umklammerte sie noch das Taschentuch. Sie war fast siebzig Jahre alt. Und ich dachte: Ich werde sie nie vergessen. Niemals.
    Sie erzählte mir, was dann geschehen war. Sonny hatte sich über den ganzen Flur erbrochen. Das war der Gestank: das Durcheinander im Magen meines Vaters. Dann ging er. Er drehte sich einfach um und lief in die Nacht hinaus. Wenn ich zehn Minuten früher gekommen wäre, hätte ich ihn noch angetroffen. Die Langsamkeit der Überlandbusse hatte mich gerettet. Diesmal. Man konnte auch sagen, daß es Lindsey war, die mich gerettet hatte, weil sie ihr Dickerchen gerade an diesem Tag geheiratet hatte. Ich stellte mir vor, wie sie lachte und sagte: Ja, das habe ich einmal getan. Sei froh, Mary.
    Ich zitterte jetzt sehr heftig, und mir klapperten die Zähne. Ich hätte gern die Arme um den Elektroofen gelegt.
    Miss McRae stand auf. Sie wollte uns zwei Becher Horlicks machen. Ich sagte, daß es mir ein wenig übel sei, wahrscheinlich vom Dettol.
    Als Miss McRae dann gegangen war, um das heiße Getränk zuzubereiten, drang es bis zu mir durch – das Gefühl, daß etwas zu Ende ging. Ich hatte vorgehabt, noch ein Jahr in Swaithey zu bleiben, um den Schulabschluß zu machen, den ich letztesmal wegen meiner wahnsinnigen Liebe zu Lindsey nicht bestanden hatte. Dann hatte ich mich um ein Studium an einer Universität, weit weg von Suffolk und weit weg von allen, die ich kannte, bemühen wollen. Jetzt wurde mir klar, daß ich sofort gehen mußte. Nicht noch in derselben Nacht, in Cords altem Kamelhaar-Morgenrock, doch so schnell wie möglich, so schnell ich etwas finden konnte – eine Bleibe und irgendeine Arbeit, bei der Post, in einem Laden oder in einer Fabrik, die Segelflugzeuge herstellte, egal was. Ich mußte von dem einen Leben in ein anderes hinüberwandern. Nicht meine Seele, die wahrscheinlich zurückbleiben und sich an den Wegen in Suffolk oder, wie mein alter Tennisball, in einem Graben verstecken würde, aber mein Körper. Ich mußte ihn woanders hinbringen, wenn ich nicht sterben wollte. Nicht einmal Miss McRae würde mich hier retten können.

Dritter Teil

10. Kapitel
    1966
»Ganz und gar kein Schrott«
    Das letzte, was Mary von der alten Gegend sah, war Cords Gesicht durchs Zugfenster. Er weinte mit einem Auge, seinem gelähmten. Sein Beatles-Schnurrbart sah gelb aus, doch sein Mund versuchte ein Lächeln. Als dann der Zug nach London abfuhr, schloß Mary die Augen.
    In einem Café bekam sie eine Stelle als Tellerwäscherin. Das Spülbecken dort war so alt und tief wie Estelles auf dem Hof. Die Tassen waren aus Glas. Es war die Zeit der hellrosa Lippenstifte. Hunderte von Tassen hatten diesen kleinen bonbonrosa Halbmond oben am Rand. Mary träumte von schönen, blaßlippigen Mädchen in kurzen Röcken und weißen Stiefeln.
    Cord hatte gesagt: »Früher hat man immer in Earl’s Court ein Zimmer gefunden, Martin. Versuch es doch mal dort, alter Knabe.«
    Sie fand ein möbliertes Zimmer im Hinterhaus eines sechsstöckigen Wohngebäudes. Es ging auf einen gekachelten Lichtschacht voller Fenster und Feuertreppen hinaus, wo die Sonne aber niemals hinkam. In diesem Schacht stiegen Gesprächsfetzen und Echos aus fremden Leben auf, vieles, was nicht für andere bestimmt war. Mary gefiel das. Ihr gefiel es, wenn die Leute kreischten, schrien und fluchten. Sie fühlte sich dann weniger einsam

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