Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
begab sich in die Küche hinunter, um sich ihre Milch zu kochen. Sie hatte ihm erklärt, daß Hunger in der Nacht tödlich sein konnte, wenn man alt war. Man wachte auf und befand sich oben an der Decke und blickte auf seinen eigenen Leichnam hinab.
Seine Tränen versiegten, und er schloß die Augen. Er fühlte sich hundemüde und wartete darauf, daß der Schlaf ihn wie ein Geliebter umfing.
Am darauffolgenden Abend besuchte er Pete. Er sagte nichts über Gilbert, sondern nur: »Ich verstehe mein Leben nicht. Es ergibt keinen Sinn.«
Pete kochte einen starken Kaffee. Draußen vor dem Busherrschte nächtliche Stille. Das leise Rauschen der Petroleumlampe war das einzige Geräusch.
Pete fragte: »Irgendwas Besonderes?«
»Nein«, antwortete Walter. »Einfach alles. Ich weiß nicht, wohin mein Weg führt und warum.«
»Das geht nicht nur dir so.«
»Ich meine es ernst«, sagte Walter.
»Ich auch«, erwiderte Pete. »Sollen wir einen frühen Elvis auflegen?«
Walter fand das alte Grammophon neuerdings museumsreif. Der Klang, den es hervorbrachte, war ein alter Klang. Er war dünn, als würde er in der Nacht verhungern. Walter wollte Pete gern einen richtigen Plattenspieler schenken, doch im Bus gab es keinen Stromanschluß, und Pete sagte, er brauche keinen. Es sei falsch zu glauben, daß man etwas brauche, nur weil es andere brauchten.
Sie hörten sich ein Lied an, das Workin’ on the Building hieß. Es war ein Spiritual. Elvis hatte Gospelsänger als Begleitung. Pete kannte den Text und sang mit:
I’m workin’ on the building,
It’s a true foundation,
I’m holdin’ up the bloodstained
Banner for my Lord.
Pete schlug mit der einen seiner großen, schmutzigen Hände den Takt in die andere, als hätte er dort ein Tamburin.
Well, I’ll never get tired of
Workin’ on the building.
I’m goin’ up to my Heaven,
Getting my reward!
Pete beugte sich beim Singen übers Grammophon, wobei sein Gesicht unbarmherzig von der Lampe beleuchtet wurde. Da bemerkte Walter zum erstenmal, daß sich Petes Nase verändert hatte. Sie war auf der einen Seite gewuchert, pockig und aufgequollen. Man hätte meinen können, sie wäre ausgestopft; sie glich dem Sterz eines Huhns. Walter starrte darauf. Er war entsetzt. Die Nase sah so aus, als würde sie gleich aufplatzen.
Pete hörte zu singen auf, und Elvis begann ein melodiöses Lied.
In the early morning rain
With a dollar in my hand,
And an aching in my heart,
And my pockets full of sand...
Walter fragte Pete: »Was ist denn mit deiner Nase los, Pete?«
»Ach, nichts«, sagte Pete, »nichts.«
»Sie wird auf einer Seite größer.«
»Ja.«
»Na und?«
»Das tun Nasen manchmal, daß sie ungleichmäßig werden. Sie sind das einzige Stück an uns, das nicht aufhört zu wachsen. Das wußtest du doch, oder? Alles andere an uns schrumpft, aber die Nase dehnt sich aus – sogar im Grab noch.«
»Das mußt du mal nachsehen lassen, Pete.«
»Warum?«
»Falls etwas damit nicht in Ordnung ist.«
Pete fing wieder an zu singen: »Out on runway number nine/Big 707 set to go...«
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, ich höre dir zu, Walt. Aber es ist schon alles in Ordnung. Meine Nase macht nur, was sie will.«
Walter war schlechter Laune und fühlte sich niedergeschlagen. Er war zum Bus gekommen, um sich mit Pete zu unterhalten, nicht direkt über Gilbert, aber darüber, daß ihn alles verwirrte und erstaunte und er nicht sagen konnte, wie es ausgehen würde. Doch nun, als er Petes dicke Nase im Schein derPetroleumlampe bemerkte, sah er sich einem weiteren Rätsel gegenüber. Er trank seinen Kaffee aus und schwieg; Pete sang weiter und tat, als bemerkte er sein Schmollen nicht. Walter dachte: Es ist die Ursache , die ich immer nicht verstehen kann. Ursache und Wirkung. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum ich Sandra heiraten wollte. Ich kann auch nicht sagen, warum ich Gilbert liebe und keinen Widerwillen empfinde. Und wenn ich die Ursache nicht verstehe, dann kann ich natürlich auch die Wirkung nicht verstehen.
Dann sagte er aus heiterem Himmel zu Pete: »Ich möchte ein Lied schreiben. Ich möchte wieder damit anfangen. Hilfst du mir dabei?«
Pete nickte. Er stand steif auf und ging in die kleine Küche, um Whisky zu holen. Wenn ihn sein Gefühl nicht trog, würde es eine lange Nacht werden.
11. Kapitel
1967
Mary:
Meine Freundin Georgia Dickins war neununddreißig Jahre alt. Sie arbeitete für die wöchentlich erscheinende Frauenzeitschrift
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