Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
weißt du ganz genau. Als du ruhig und zufrieden warst.«
»Wann soll denn das gewesen sein?«
Margaret schniefte. »Wenn etwas geschehen ist, meine ich, daß du es mir schuldig bist, es mir zu sagen.«
Gilbert schwieg. Er ließ das Schweigen anhalten. Darin konnten sie beide das Rauschen des Meeres hören. Gilbert stellte sich vor, wie still es hier sein würde, wenn er das Haus verließ und sein Leben woanders neu begann. Er empfand bei dem Gedanken sowohl freudige Erregung als auch Angst.
»Es ist nichts geschehen, Mutter«, erwiderte er schließlich. »Nur die Zeit verrinnt.«
An einem Novemberabend sagte Gilbert nach ihrem Stündchen im Wartezimmer zu Walter: »Ich sollte dir wohl lieber mitteilen, daß ich meine Zelte hier in Swaithey abbreche. Ich hätte es schon vor Jahren tun sollen. Ich war nur zu feige. Doch dieses Jahrzehnt ist anders.«
Walter hatte das Gefühl, einen Stein verschluckt zu haben, einen Stein so groß wie eine Kartoffel. Er war zwar glatt, aber furchtbar schwer, und lag direkt auf seinem Herzen.
Er kleidete sich an und sah zu, wie Gilbert seine Hose anzog. Es ging ihm durch den Kopf, daß der wirkliche Eden an seinem Versagen und seiner Schande gestorben war, daß dieser hier jedoch lebte und davonsegelte. Er würde nie auch nur einen Blick zurückwerfen.
»Wohin gehst du?« fragte er mit schwacher, vom Stein behinderter Stimme.
»Nach London«, antwortete Gilbert. »In eine Gemeinschaftspraxis in der Flood Street.«
»Wo ist denn die Flood Street?«
»In Chelsea. Im Swinging London.« Er lächelte sein verträumtes Lächeln. »Es wird Zeit, daß ich noch ein wenig swinge, bevor ich zu alt dafür bin. Meinst du nicht auch?«
Walter war noch nie in London gewesen. Er stellte es sich immer als eine rot-schwarze Stadt vor: rote Busse, schwarze Kirchen, rote Gardisten, schwarze Tore, rote Telefonzellen, schwarzes Wasser. Er war sich über die Unzulänglichkeit und Kindlichkeit seines Bildes im klaren und sagte: »Was ich meine, spielt überhaupt keine Rolle.«
Gilbert kämmte sich die Haare, die er jetzt länger trug. »Vielleicht sollten wir mit diesen Treffen aufhören? Ich denke dabei hauptsächlich an dich.«
Walter saß absolut still da und verzog keine Miene. Der Stein drückte ihn nieder. Er war halb blind, als hätte hinter seinen Augen oder in seinem Kopf eine Eintrübung stattgefunden, als hätte sich irgendwo Smog gebildet. Es dauerte, wie es ihm schien, sehr lange, bis er etwas herausbrachte. Er sagte: »Und was wird aus meinen Zähnen?«
Er hörte Gilbert lachen. Dann erstarb das Lachen. Walter stellte sich vor, wie es in London, auf dem Dach eines roten Busses, zu neuem Leben erwachte. Gilbert stand jetzt neben ihm, sehr groß, wie es ihm vorkam, und berührte mit einem seiner langen, zärtlichen Finger die kahle Stelle auf seinem Hinterkopf. Er sagte: »Das liegt ganz bei dir, Walter. Das liegt ganz bei dir.«
Walter erhob sich mühselig mit seinem vom Stein so schweren Körper, verließ Gilberts Wartezimmer und ging hinaus in die schwarze Nacht. Die kalte Luft tat ihm weh. Seine Luftröhre schien festzufrieren. Er wünschte, er hätte das letzte Wort gehabt. Und er wünschte, das letzte Wort wäre ein Fluch gewesen. Jetzt fluchte er vor sich hin, doch er wußte, daß Gilbert außer Reichweite war, außer Reichweite seinerWorte und außer Reichweite seiner Macht, ihn zu treffen oder zu verletzen – so, wie es immer schon gewesen war.
Zu Hause angekommen, sagte er zu Grace, daß er sich nicht wohl fühle und Schmerzen in der Brust habe. Sie warf ihm einen angstvollen Blick zu.
»Es ist aber doch nicht das, was du schon einmal gehabt hast, Walter, nicht wahr?« fragte sie.
»Was habe ich denn schon einmal gehabt?«
»Das mit den Stimmbändern, in deiner Kehle, nach der Geschichte mit Rose Marie.«
»Nein, nein.«
Er bat, nicht soviel Aufhebens zu machen. Grace legte ihm die Hand auf die Stirn. Diese fühlte sich kühl, ja sogar kalt an. Sie sagte, sie bringe ihm eine Wärmflasche.
Walter zog sich den Schlafanzug an. Seine Hände rochen noch nach Gilberts Körper. Dann lag er mit verschränkten Armen, wie tot, auf dem Rücken im Bett.
Grace kam mit der Wärmflasche. Sie küßte ihn auf den Kopf und meinte: »Wenigstens kannst du morgen ausschlafen, mein Lieber. Morgen ist Sonntag.«
Er lag im Dunkeln und weinte. Er hörte seine Mutter und Tante Josephine die Treppe heraufkommen und in ihre Schlafzimmer gehen. Später stand Tante Josephine wieder auf und
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