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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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aufschreckte, sah sie, daß Edward wach war und in Gullivers Reisen las. »Wirst du es mir auch ganz bestimmt sagen, wenn ich etwas für die arme Mary tun kann?« fragte sie ihn.
    »Sie ist keine arme Mary.«
    »Du wirst es mir aber sagen?«
    »Ja, Irene. Nun schlaf weiter.«
    »Ich hatte einen schrecklichen Traum. Lies mir ein bißchen aus deinem Buch vor, ja?«
    Er begann ohne weiteren Kommentar über die Reise nach Brobdingnag im 7. Kapitel vorzulesen: »Die Bildung der Brobdingnagger ist ziemlich beschränkt. Sie kennen als Wissenszweige lediglich die Moral, die Geschichte, Dichtung und Mathematik. Auf diesen Gebieten haben sie freilich Hervorragendes geleistet. Die Mathematik wird nur insoweit gelehrt, als sie auf das praktische Leben anwendbar ist; zum Beispiel zur Verbesserung der Bodenbearbeitung und in allen technischen Künsten, so daß sie bei uns nicht besonders geachtet werden würde. Vergeblich versuchte ich ihnen beizubringen, was wir unter Ideen, Wesensbegriffen, Abstraktionen und transzendentalen Werten verstehen...«
    Er mußte nicht lange laut vorlesen, da war Irene wieder in ihren stillen Schlaf gefallen. Er wußte, daß sie kein Wort verstanden hatte.
    Edward legte das Buch weg und nahm die Brille ab. Dann löschte er das Licht und saß im Dunkeln, als warte er auf jemanden oder etwas.
    Marys Brief ging ihm nicht aus dem Kopf. Er fesselte ihn. Er war ein ruhiger Mann mit einer heimlichen Begeisterung für das Unerwartete, Wunderbare. Sein Verlangen nach Irene,Billys Geburt – das waren kleinere Wunder gewesen. Doch was Mary vorhatte, war außergewöhnlich, jenseits fast aller menschlichen Erfahrung. Er dachte: Niemand hier wird es verstehen, vielleicht nicht einmal Irene, obwohl sie Mary liebt. Auch Pearl nicht.
    Er legte sich hin und schloß die Augen. Was Edward Harker noch an Eitelkeit verblieben war, fühlte sich dadurch geschmeichelt, daß Mary ihn ausgewählt hatte, sich als ihren Vater auszugeben. Bevor ich Irene getroffen habe, hätte ich diese Rolle nicht spielen können, doch jetzt habe ich ja einige Jahre Übung mit Pearl und Billy, dachte er. Ich weiß, wie ein Vater versuchen muß zu sein.
    In ihrem kleinen Zimmer neben Edwards und Irenes wiederholte Pearl beim Schein einer Taschenlampe den Biologiestoff. Sie lernte am liebsten alles auswendig, Wort für Wort.
    Sie versuchte, sich die Beschreibung eines Insekts namens Brauner Teichschwimmer einzuprägen. In ihrer runden, klaren Schrift hatte sie in ihr Biologieheft geschrieben: »Der Braune Teichschwimmer hat einen braunen, ovalen Körper und eine gelbe Linie direkt über den Hornflügeln. Auf der Suche nach kleinen Fliegen, seiner Lieblingsspeise, schwimmt er recht schnell im Teich herum.« Sie sagte das jetzt mit geschlossenen Augen auf. Sie war bemüht, es wie ein Gedicht oder Lied klingen zu lassen, da man sich diese leichter merken konnte als Sätze:

    Der Braune Teichschwimmer
    hat einen braunen , ovalen Körper...
    Als sie am Ende war, versuchte sie sich eine Fliegenmahlzeit vorzustellen. Sie malte sich aus, wie sie die Fliegen lebend im Mund hatte und diese probierten, sich zu bewegen und zu summen, aber dann verschluckt wurden und starben. Biologie war schon merkwürdig. Es war ihr Lieblingsfach.
    Sie war fünfzehn. Ihr zitronengelbes Haar war nicht nachgedunkelt. Man sah hinter ihr her, doch ihr war das gleichgültig. Sie hielt die Leute mit ihren klaren blauen Augen auf Distanz. Sie wollte selbst wählen und nicht gewählt werden. Und sie war noch nicht bereit dafür. Noch nicht.
    Sie liebte ihr Zimmer mit den weißen, von Irene genähten Vorhängen, den zartgrünen Wänden, ihren alten, in Reih und Glied sitzenden Puppen und ihren systematisch geordneten Büchern. Wenn sie aus dem Fenster schaute, sah sie die Kirche von Swaithey, wo sie an jedem vierten Samstag im Monat den Altar mit Blumen schmückte. Sie konnte das viel besser als Irene. Wenn sie einen Eimer voller Grün und Blumen verschiedener Farben und Längen vor sich hatte, wußte sie sofort, wie man alles am besten in einer Vase anordnete. Sie sagte zu Irene: »Ein Blumenarrangement unterliegt Regeln. Wie alles auf der Welt.«
    Pearl machte die Taschenlampe aus und legte sich hin. Jeden Abend dachte sie nach der Wiederholung des Unterrichtsstoffs an ihre Zukunft. Sie würde Zahnarzthelferin werden. Sie hatte sich schon im College von Ipswich um einen Ausbildungsplatz beworben. Sie würde eine strahlend weiße Uniform tragen, ihr langes Haar zu einem Knoten

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