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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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drehen und ein Schwesternhäubchen mit Haarnadeln auf dem Kopf befestigen. Sie würde das rosa Kügelchen in das Wasserglas werfen, den Patienten Lätzchen um den Hals legen, sie saubermachen und ruhig halten. Sie freute sich auf ihr Leben. Sie war der Meinung, daß jeder einen Lebensplan haben sollte, und sie hatte einen.
    Doch an diesem Abend dachte sie an Mary. Edward hatte gesagt, sie würde versuchen, »das Beste aus ihrem Leben zu machen«. Und sie dachte, daß Mary vielleicht, obwohl sie sonst immer so klug gewesen war, nie einen Plan gehabt hatte. Und nun war sie vom Weg abgekommen. Es war dunkel um sie herum, wie in einem Wald, und sie wußte nicht, wie sie wieder herauskommen sollte.
    Am nächsten Tag beschloß Pearl, allein mit Edward zu sprechen. Sie wartete, bis Irene mit Billy nach oben gegangen war, um ihn zu baden.
    »Edward, ist Mary vom Weg abgekommen?«
    »Vom Weg abgekommen?«
    »Ja.«
    »Was meinst du damit – vom Weg abgekommen?«
    »Ich weiß es nicht. Kann ich sie besuchen? Kann sie zu uns kommen?«
    »Nein, ich glaube nicht. Aber ich fahre nach London. Du kannst mir einen Brief oder eine Karte für sie mitgeben.«
    »Und ich darf nicht nach London fahren?«
    »Nein, Pearl.«
    »Warum nicht?«
    »Es geht nicht.«
    »Ist sie krank?«
    »Nein.«
    » Sag es mir, Edward!«
    »Ich kann es dir nicht sagen. Ich habe es versprochen.«
    »Brich dein Versprechen. Sag es mir, nur mir.«
    »Nein.«
    »Ist sie verletzt?«
    »Nein.«
    »Das glaube ich aber doch. Ich glaube, daß etwas Schlimmes passiert ist. Und sie hat als Kind schon so viel Schlimmes durchmachen müssen. Ich will nicht, daß dies jetzt geschieht!« Pearl fing zu schluchzen an. Sie dachte: »Eigentlich schluchze ich ja schon den ganzen Tag, nur kommt es jetzt erst heraus. Edward legte den Arm um sie. Er fand in seiner Tasche ein rotes Taschentuch, das nach Leinöl roch, und gab es ihr. Freundlich sagte er: »Hör zu. Schreib Mary einen Brief, und ich nehme ihn mit. Ich erzähle ihr, daß du sie gern besuchen möchtest, und vielleicht lädt sie dich dann ja für einen Tag nach London ein. Wenn sie dich einlädt, kannst du hinfahren. Vielleicht geht sie dann mit dir ins Natural History Museum.«
    »Sie hat ein so schreckliches Leben gehabt!«
    Irene, die Pearls Weinen gehört hatte, kam die Treppe heruntergerannt. Billy folgte ihr, rot und dampfend vom Bad, ein vanillegelbes Handtuch hinter sich herziehend.
    Pearl fühlte sich von Edwards Umarmung in Irenes übergeben. Sie weinte so heftig, daß sie nicht sprechen konnte und es ihr in der Brust weh tat. Sie hörte, wie Billy aus Sympathie in ihr Heulen einstimmte, und dann merkte sie, daß auch Irene weinte. Sie dachte: Wir haben eine Kummerparty. So etwas kommt wirklich vor.
    Danach fühlte sie sich ruhiger. Sie entschloß sich, Mary zu schreiben, und wußte auch schon, wie sie den Brief beginnen würde: »Liebe Mary, wir hatten am Freitag eine Kummerparty für Dich. Wir standen alle unten an der Treppe und weinten. Du hättest bestimmt gelacht, wenn Du uns gesehen hättest!«
Timmys Winkel (2)
    Timmy überlegte, was zu tun war.
    Er war achtzehn und kein Olympiaschwimmer geworden. Er arbeitete jeden Tag zwölf Stunden auf dem Hof, und doch verfiel alles um ihn herum. Er schwamm mit dem Ruin um die Wette. Der Ruin hielt sich nicht an seine Bahn, trug keine Nummer und zeigte nie Ermüdungserscheinungen.
    Niemand sonst nahm an dem Wettkampf teil. Sonny und Wolf, der Hund, verbrachten die meiste Zeit in der Scheune beim Mähdrescher, der zum Schutz gegen Frost und Rost mit Säcken bedeckt war. Wolf lag auf dem Boden und schlief. Sonny flickte und reparierte alte, defekte Geräte und Maschinen, ersetzte abgebrochene Griffe und stellte Lote her. Er saß auf einem Strohballen und sprach mit dem Hund.
    Sonny war sehr dünn geworden. Er aß fast nichts mehr, trank nur noch. In den Sachen, die er trug, und mit den weißen Stoppeln im Gesicht machte er einen heruntergekommenen Eindruck. Er sagte zu Timmy: »Der Hof gehört dir, jedes Stückchen davon. Das weißt du doch, nicht wahr? Für dich habe ich alles in Gang gehalten.«
    Timmy schaffte die Hühner ab. Grace Loomis hatte jetzt dreihundert Hühner, die in einem Aluminiumschuppen unter hellen Lampen rund um die Uhr Eier legten. »Wir sind nicht mehr wettbewerbsfähig, nicht bei diesem neuen, niedrigen Eierpreis«, erklärte er seinem Vater. Sonny strich Wolf über den Kopf und meinte: »Die Hühner sind sowieso ein bekloppter Haufen. Weißt du

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