Die Verwandlung
Wachhund zu spielen. Doch ich wusste, dass ich sie vielleicht mehr denn je brauchte, wenn ich verhindern wollte, als Nächtliche Emily schlimme Verheerungen anzurichten. Oder betrunken zu werden und mich zu verwandeln in… Daran wollte ich nicht denken. Ich flitzte um die Ecke und rannte in Mr. Philbricks Naturwissenschaftskurs.
Dort angekommen öffnete ich die Tür so leise wie möglich. Mr. Philbrick hatte mir seine ausladende Rückenpartie zugewandt, und ich spähte um ihn herum ins Klassenzimmer. Den ersten Menschen, den ich sah, hatte ich an diesem Tag nicht wirklich in der Schule erwartet: Amy Delgado.
Sie starrte mich ebenso an wie ich sie. Ihre Lippen formten das Wort » Schlampe « .
Ich machte die Tür leise wieder zu– heute fiel der Naturwissenschaftskurs für mich wohl besser aus. Schließlich landete ich in der Bücherei, setzte mich auf den kleinen Läufer und versteckte mich hinter den Bücherstapeln. Am liebsten hätte ich geweint, aber das kam mir so absolut kindisch vor. Andererseits, warum sollte ich nicht weinen? Ich meine, ich hatte es geschafft, aus der absoluten Anonymität heraus die » fette « Emily und die » Schlampe « Emily genannt zu werden, während Megan glaubte, ich würde versuchen, sie als Freundin loszuwerden, meine gesamte Familie wütend auf mich war und der arme Dalton meinetwegen angeschossen worden war. Dann gab es noch diese nächtlichen Verwandlungen, die vom aufregenden Nervenkitzel bis hin zu etwas reichten, das absolut außer Kontrolle geraten war… Tränen brannten in meinen Augen, doch ich hielt sie zurück. Was hätte die Nächtliche Emily getan? Sie wäre in den Naturwissenschaftskurs gestürmt, als würde das Gebäude ihr gehören, hätte Amy Delgado ebenfalls eine Schlampe genannt, die Füße auf den Tisch gelegt und sich für etwas Bücherwissen locker gemacht. Sie hätte Megan gesagt, sie solle sich nicht so überempfindlich benehmen und lieber anfangen, sie mehr zu unterstützen, wie man das von einer besten Freundin erwarten konnte. Dann hätte sie eventuell ein Auto gestohlen, sich zu einer Spritztour auf die Autobahn aufgemacht und vielleicht noch versucht, eine Bank auszurauben, um die Aufmerksamkeit des süßen Wachmanns auf sich zu ziehen. Ich lachte in mich hinein. Mein Leben geriet recht schnell ins Absurde. Ich zog mich mithilfe der Bücherborde in die Höhe. Dann las ich auf dem Buchrücken den Titel des vor mir stehenden Buches: Werwölfe, Hexen und umherirrende Geister: Traditioneller Glaube und Folklore in der frühen Neuzeit Europas. Wenn das kein verrückter Zufall war. Ich zögerte einen Moment, bevor ich das Buch aus dem Regal zog. Daneben standen noch mehr Bücher über ähnliche Themen. Die nahm ich ebenfalls. Ich fand einen Tisch in dem ruhigen, beinahe leeren Eingangsbereich der Bibliothek, wo ich mich mit meinem Bücherstapel hinsetzte und darin zu blättern begann. In den Büchern gab es reproduzierte Gravierungen von Werwölfen, die in Dörfer einfielen und Schweine, Hühner und gelegentlich einen unglücklichen Menschen fraßen. Dann gab es noch die Standardfloskeln bezüglich der Werwölfe, wie sie uns allen hinlänglich bekannt sind: Selbst einer werden, nachdem man von einer anderen Person gebissen worden war, auf der dieser Fluch lastete, sich bei Vollmond verwandeln, nur von einer Silberkugel getötet werden können. Nun, das hatte alles nichts mit mir zu tun. Der Mond hatte letzte Nacht gar nicht am Himmel gestanden, und ich war sicherlich von niemandem gebissen worden, schon gar nicht von einem Wolf. Das gehörte zu der Art von Vorkommnissen, an die man sich garantiert erinnern würde. Und obwohl ich es nicht auf einen Versuch ankommen lassen wollte, war ich mir ziemlich sicher, dass jede Kugel mich töten könnte, Silber hin oder her. Zumindest war das bei Emily Cooke der Fall gewesen. Ich schlug das Buch zu. Das war absolut albern. Es gab gar keine Werwölfe! Sie dienten lediglich als Futter für Filme und Bücher. Abgesehen davon– wie könnte sich jemand in nur wenigen Minuten vollständig in eine andere Kreatur verwandeln? Das ergab keinen Sinn. Ich war letzte Nacht betrunkener gewesen als eine im Rinnstein liegende Pennerin, das war alles. Vielleicht sahen alle Menschen Dinge, wenn sie betrunken waren. Ich meine, warum sonst verwendeten Leute Ausdrücke wie » sich etwas schön trinken « ? Ein plötzlich aufkommendes Gefühl ließ mich aufblicken. Die Bibliothekarin, eine magere Frau mit kurzem weißem Haar und
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