Die verzauberten Frauen
wirklich Ermutigendes«, erklärte Brandes. »In der ganzen Wohnung nur die von Frau Kessler, sie scheint nie Besuch gehabt zu haben. Die Küche ist geputzt, die Möbel wie abgeleckt. Einzige Ausnahme: das Kinderzimmer, in dem ihr Sohn gewohnt hat. Da wimmelt es von Spuren, die aber alle nur dem Junior zuzuordnen sind, da scheint sie nie sauber gemacht zu haben und er wohl schon gar nicht. Nur im Eingangsbereich des Hauses fanden wir Abdrücke von drei unbekannten Fingern, die wir noch abgleichen. Sie konnten bisher nicht zugeordnet werden. Dort gibt es auch das schwache Profil eines fremden Schuhabdrucks.«
»Danke, Sabine!«
Velsmann legte das Mobiltelefon in die Halterung zurück. Dann beschloss er, Sievers anzurufen, und nahm das Gerät wieder in die Hand.
»Ja, Velsmann hier. Herr Sievers, hat sich Ihr Anwalt zufriedengegeben?«
»Sie müssen verstehen, die Familie ist nervös geworden.«
»Sicher verstehe ich das. Man hat mir in Ehrenbreitstein eröffnet, dass die Polizei Ihnen das Pergament zugespielt hat. Und, obwohl ich nicht sicher bin, ob ich Ihnen das sagen darf –, Sie müssen es nicht untersuchen. Es ist nicht das Original.«
»Ach?« Sievers klang echt überrascht. »Und warum die Geheimnistuerei?«
»Ich bin mir nicht sicher. Sind Sie zu neuen Erkenntnissen gekommen?«
»Ich weiß im Moment wirklich nicht, was hier eigentlich gespielt wird. Grundsätzlich würde ich mich gern aus allem heraushalten. Ich habe meinen Job im Brentanohaus, das genügt mir.«
»Kann ich verstehen. Geht mir genauso. Aber die Welt ist schlecht.«
»Manchmal denke ich, der romantische Rhein – also verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin durchaus bei Verstand – ist kein wirklicher Ort.«
»Nein?«
»Nein. Er ist ein eingebildeter Ort, ein geistiger Ort, verstehen Sie? Ein Ort für die Fantasie.«
»Haben die Romantiker das nicht so gesehen?«
»Man könnte zu den gleichen Schlüssen kommen wie sie. Die Romantiker glaubten ja, die vielen Burgen zwischen Bingen und Koblenz seien ein Netz von, nun ja, von Kontrollposten. Nirgends auf der Welt gibt es eine solche Dichte dieser Bauwerke. Warum also gerade hier?«
Velsmann spürte einen Stich. »Von Kontrollposten, Herr Sievers?«
»Für einen elitären, geistlichen, vielleicht auch weltlichen Orden, der sich hier niedergelassen hat. Und die großen historischen Reisenden, dazu gehört natürlich auch Brentano, dazu gehören Victor Hugo, Freiligrath, Weerth, Stefan George und viele andere, seien nicht Flaneure gewesen, sondern Träger der Prophezeiung.«
»Das müssen Sie mir erläutern!«
»Nein, muss ich nicht. Niemand ist für seine nächtlichen Gedanken verantwortlich. Darauf hat selbst das Gesetz keinen Zugriff.«
»Ich werde darüber nachdenken!«
Velsmann legte auf. Eins kam zum anderen. Noch disparat. Aber Velsmann spürte, wie sich die Dinge zusammenschoben. Sievers hatte den gleichen Gedanken geäußert, den Faust formuliert hatte. Das war noch kein Beweis für eine Wahrheit. Aber es wies in eine Richtung. Er hätte Sievers gern noch mehr gefragt. Aber wozu alles noch weiter komplizieren.
Er stieg aus.
Leicht benommen näherte er sich dem Hauseingang. Man erkannte ihn und ließ ihn passieren. Velsmann stieg die vertraute Treppe empor. Er kannte hier jeden Meter, die Farben des Treppenhauses, den leichten Geruch nach Auslegware und Essenszubereitung. Aber plötzlich bekam er das Gefühl, vom Weg abzukommen. Etwas anderes öffnete sich hinter dem Vertrauten. War es nicht jederzeit möglich, dass man seinen Halt verlor? Wenn sich Dinge ereignen, die man nicht für möglich gehalten hatte, dann wurde alles andere auch denkbar. Clemens von Brentano hatte nach dem Tod von Frau und Kind die reale Hölle auf Erden erlebt. Alles hatte sich umgestülpt. Auch Velsmann spürte nun, wie das Selbstverständliche verschwand und die Welt vor seinen Augen etwas Unbekanntes, Befremdliches bekam. Eine zweite Wirklichkeit lauerte doch hinter der bekannten. Das hatte er schon immer gespürt. Jetzt zeigte sie sich.
Die Prophezeiung Aja Goethes kam ihm in den Sinn: Dein Reich ist in den Wolken und nicht auf dieser Erde, und so oft es sich mit derselben berührt, wird es Tränen regnen.
Ziemlich blöd, ein Kind auf solche Behauptungen festzunageln, dachte Velsmann. Da bleibt nicht mehr viel Spielraum.
Und auch für ihn galt, dass er viele Dinge zunehmend im Licht von Prophezeiungen sah. War nicht alles vorherbestimmt? Jetzt, wo er hier diesen Treppenflur
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