Die verzauberten Frauen
Ordensbrüdern mit einem festen religiösen Weltbild? Ist so etwas denkbar? Und beide Seiten sind aus ihrem zweihundertjährigen Schlaf erwacht? Warum jetzt?
Geht es um dieses vergrabene Pergament? Diese Mahnung? Diese düstere Prophezeiung des Weltendes? Nein, dachte Velsmann, was ist schon ein Papier! Steckt es weg, vergesst es! Und schon liegt kein Verhängnis mehr über unseren Köpfen!
Und wenn dieser Text etwas mehr enthielt? Wenn er Stationen der Geschichte aufführte, die wie auf einer Hühnerleiter zur Katastrophe führen? Zu einer Katastrophe, die im Jahr 2012 eintreten wird? Wenn das nachprüfbar ist?
Und wie, wenn es Anhänger und Gegner dieser Prophezeiung eines Weltendes gibt, die sich bekämpfen?
Die sich erbittert bekriegen?
Und wo sie sich in die Hände kriegen, drangsalieren sie sich auf viehische Art und Weise?
Velsmann sprang auf.
Er musste unbedingt noch einmal mit Sievers sprechen. Denn jetzt wusste er, was dieser ihm bisher verschwiegen hatte.
»’tschuldigung!«, murmelte er. »Dringend.«
Er rannte durch den Flur der Polizeidirektion in sein Büro und riss den Telefonhörer von der Gabel. Zum Glück wurde sofort abgenommen.
»Hören Sie, Herr Sievers! Wir müssen uns noch einmal treffen. Am besten im Kloster Eberbach! Ich glaube, ich weiß jetzt, was es mit dieser Handschrift auf sich hat. – Herr Sievers?«
Es knackte in der Leitung. Die andere Seite hatte aufgelegt.
Velsmann war sich plötzlich sicher, nicht mit Sievers gesprochen zu haben. Irgendjemand hatte an seinem Schreibtisch gesessen und abgehoben.
Er grübelte. Was er unbedingt wissen musste war, ob Sievers sich eine kämpferische Gemeinschaft, eine Art Bruderschaft vorstellen konnte, nein, besser zwei kämpferische Gemeinschaften. Zwei Seiten einer konspirativen Gemeinschaft, vielleicht eines religiösen Ordens, oder zwei Familien durch die Jahrhunderte. Und – Velsmann stockte der Atem – eine männliche Blutlinie und eine weibliche Ideenlinie. So hatte es Breitenbach ausgedrückt. Die sich bis aufs Messer befehdeten. Auf der Loreley waren sie aufeinandergetroffen.
Irgendwann musste das angefangen haben. Aber was konnte der Grund eines solch erbitterten Hasses sein?
Ob es im Werk Brentanos dafür Anhaltspunkte gab, konnte Sievers ihm vielleicht verraten. Der Dichter hatte sich am Ende seines Lebens völlig der einen Seite ergeben. Er hatte seine letzten Jahre am Krankenbett einer katholischen Seherin verdämmert, die sich in Gottesschwüren erging. Wo war seine Liebe zu den Menschen geblieben, die er in seiner Jugend enthusiastisch gefeiert hatte? Und welche Erlebnisse steckten hinter einem solchen Wandel?
Hatte das mit den Morden auf der Loreley zu tun?
Martin Velsmann versuchte, sich zu erinnern. Was hatte ihn Sievers gefragt, als sie sich das erste Mal getroffen hatten? Ob man das Universum lieben sollte, oder die Menschen. So ähnlich. Und er hatte darauf geantwortet. Wie, das war Velsmann entfallen.
Aber genau das war es! Da lag das Geheimnis.
Wer das Universum und Gott liebt, kann die Menschen übersehen. Er kann sie sogar hassen.
Kann er deshalb auch töten?
Velsmann hatte das Gefühl, sich den Kragen aufreißen zu müssen, um Luft zu bekommen. Dann beruhigte er sich wieder. Es wird zu viel, dachte er. Das ist eine Frage für Religionsphilosophen. Du musst dich auf eine weit erbärmlichere Sache konzentrieren. Du hast hier einen Mordfall aufzuklären. Aber das, dachte er erneut, ist nichts Abseitiges. Der passt genau in das düstere Gemälde, das mit dem Grab im Kloster Eberbach begann. Und die Zeit drängt. Also spute dich.
Er stand auf und ging in das Sitzungszimmer zurück.
Schweigen empfing ihn. Alle starrten ihn an.
»Manchmal muss das eben sein«, orakelte er. »Fahren Sie doch fort, Küchler.«
Die Ermittlungsarbeit stockte. Am Tatort gab es so wenige verwertbare Spuren, dass die Spurensucher verzweifelten. Das Verbrechen schien sich unter den Augen der Ermittler in eine Idee, in eine Obsession aufzulösen. Aber es war doch tatsächlich geschehen! Dies war doch der Mord eines irdischen Täters an einem irdischen Opfer? Oder, verdammt noch mal!
Im Moment wusste Velsmann nicht, wie es weitergehen sollte. Auch Breitenbach konnte ihm nicht helfen. Sie sah so ratlos aus, dass er sie am liebsten umarmt hätte.
Das hebe ich mir lieber für Andrea auf, bremste er sich. Die ist zumindest genauso ratlos.
Er machte sich mit dem Auto auf den Weg zur Wohnung von Andreas Schwester
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