Die verzauberten Frauen
»Die Kopie bitte.«
Zögernd gab ihm Sennsler das Gewünschte zurück.
»Ist es Ihrer Meinung nach nun eine Kopie des Originals?«, wollte Velsmann wissen.
»Zweifelsfrei«, nickte Sennsler. »Wir hätten das Original allerdings lieber in unseren Händen, am sicheren Ort, als dass es irgendwo herumschwirrt.«
»Es schwirrt ja nicht herum, lieber Sennsler«, sagte der Weißhaarige, »es befindet sich in der Wohnung von Frau Kessler. Ich denke, wir werden es bald wieder in unserem Archiv haben.«
»Es ist nicht in der Wohnung von Frau Kessler«, sagte Velsmann verwundert. »Ganz und gar nicht. Es ist im Brentanohaus, wo es im Moment auf seine Echtheit hin untersucht wird.«
»Ach so?«, sagte der Weißhaarige. Velsmann bemerkte die feine Röte, die seinen glatten Hals überzog. »Dann habe ich mich wohl verhört.«
»Ich sagte nichts dergleichen«, dozierte Velsmann.
»Ja, schon gut!«, sagte der Weißhaarige pikiert. »Dann werden wir eben zur Familie Brentano Kontakt aufnehmen.«
»Also«, sagte Velsmann. »Können wir jetzt noch mal einen kleinen Endspurt einlegen? Ich muss schnellstens nach Fulda zurück. Fällt Ihnen noch etwas Wichtiges ein?«
Schweigen.
»Enttäuschend«, sagte Breitenbach und erhob sich.
»Danke, meine Herren«, sagte Velsmann.
»Einen Moment noch, Herr Velsmann!«
Inspektor Busch zog seinen Kollegen am Arm nach draußen. Breitenbach gesellte sich zu ihnen. Busch sah um sich und zog Velsmann mit sich. Als sie auf dem freien Platz vor der Feste standen sagte er: »Was ich Ihnen jetzt anvertraue, bleibt selbstverständlich unter uns. Natürlich hat meine Behörde das Pergament dem Brentanohaus zugespielt, aber es ist nicht das Original. Das darf nie wieder in der Öffentlichkeit auftauchen. Unsere Experten haben festgestellt, dass dieses Pergament Menschenhaut ist. Der fragliche Text der Warnung ist also auf abgezogener Menschenhaut geschrieben worden.«
»Sieh mal einer an«, entfuhr es Breitenbach.
»Aha«, sagte Velsmann. »Das Bartholomäus-Syndrom.«
»Wie meinen?«
»Wahrscheinlich eines der Opfer von der Loreley.«
»Nein«, sagte Busch. »Es ist älter. Viel älter. Hunderte von Jahren alt.«
»Kann ich es sehen?«
»Sie müssen einen offiziellen Antrag auf Ermittlungshilfe stellen.«
»Und was ist mit dem Stück, das im Brentanohaus ankam?«, wollte Breitenbach wissen.
»Einfaches Pergament. Dort interessiert man sich doch ohnehin nur für den Text, der draufsteht.«
»Ich melde mich bei Ihnen«, sagte Velsmann.
Den Rückweg rannte er.
»Was ist denn eigentlich los?«, fragte Breitenbach, die versuchte, Schritt zu halten.
Velsmann erklärte es ihr.
»Verdammt«, entfuhr es der Assistentin. »Was wird hier eigentlich gespielt? Man hat doch das Gefühl, in eine Richtung zu laufen, während genau in der anderen die Bäume gefällt werden!«
»Das haben Sie richtig ausgedrückt, Kollegin.«
»Was halten Sie von diesen Leuten?«
»Wen meinen Sie genau?«
»Diesen, diesen Personalchef, der so tut, als sei er uralt, was er aber gar nicht ist.«
»Undurchschaubar«, sagte Velsmann.
»Und dieser Sennsler.«
»Ein Wichtigtuer.«
»Mehr nicht?«
»Ich weiß es nicht.«
Im Auto gab Velsmann Gas. Sein Gesicht war angespannt. Breitenbach verhielt sich still.
Schon in Höhe der Ausfahrt Fulda schien Velsmann zu erwachen. Er sagte plötzlich: »Der Mann hat ganz recht.«
Breitenbach blickte ihn erwartungsvoll an.
»Wo liegt der Zusammenhang zwischen dem Pergament aus Eberbach und dem Mord in Fulda? Ich will Ihnen zumindest sagen, warum ich mich so darin verbeiße.«
»Müssen Sie nicht, ich –«
»Als Junge hat mich der lachende Abt im Kloster fasziniert. Und jemand hat mir die Bedeutung der Zahl Sieben erklärt. Später habe ich Zivildienst in der Klinik Eichberg geleistet, die liegt in direkter Nachbarschaft zum Kloster Eberbach. In dieser Zeit, es war im Herbst 1968, traf ich mich heimlich mit einem Mädchen im Kloster – es gibt ja einen unterirdischen Gang zwischen der Klinik und dem Kloster. Ich war unsterblich verliebt in Hassida, sie war eine Bekehrte aus Poona –«
»Sanjassin«, sagte Breitenbach dazwischen.
»Liebe, dachte ich damals, sei das einzige, das wirklich zählt. Körperliche Erfüllung, geistige Liebe. Daran darf man nicht verzweifeln. Es ging mir also wie Clemens von Brentano. Ich glaubte felsenfest daran, dass nur die Liebe unseren Charakter völlig offenbart. Das ist wohl der Grund, weshalb mich das Werk dieses Dichters
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