Die verzauberten Frauen
Anschein gehabt hatte. Im Raum hatte sich eine gedrückte Stimmung breitgemacht.
»Ich bin der Personalchef, aber so leid es mir tut, ich könnte der Charakterisierung von Herrn Sennsler nichts Wesentliches hinzufügen. Frau Kessler wurde von mir persönlich im Jahr 1972 eingestellt, sie hatte beste Referenzen als Grafologin, und als solche war sie im Archiv tätig. Sie hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen, verrichtete ihren Dienst pünktlich und gewissenhaft. Über ihr Privatleben wissen wir nichts und dürfen auch gar nichts wissen. Nach Feierabend hatte niemand Kontakt zu ihr, was auch daran lag, dass sie sofort in den Zug nach Fulda stieg. Man kann doch nichts über eine Person sagen, wenn es nichts zu sagen gibt.«
»Am ehesten kannte ich sie noch«, ergänzte Sennsler. »Wir haben ja in der gleichen Abteilung gearbeitet. Frau Kessler untersuchte alte Handschriften, die bei uns eingelagert waren oder werden sollten, ich bin für die Expertisen aller angeforderten Stücke verantwortlich. Aber ich muss wiederholen: Über Frau Kessler gibt es nichts zu sagen. Sie ist auf eine vertrackte Art und Weise unsichtbar geblieben.«
Genervt blickte Velsmann aus dem Fenster. Draußen zogen Regenwolken auf. »Gut«, sagte er. »Dann müssen wir es anders anpacken. Das hier ist die Kopie des Pergaments aus dem Kloster Eberbach.« Er zog das zusammengefaltete Papier aus der Jackentasche. »Kann mir jemand von Ihnen sagen, ob das eine Kopie des Originals ist?«
Alle sprangen auf. Sennsler sagte: »Woher haben Sie das!«
»Das ist egal«, sagte Velsmann grob. »Sie erinnern sich vielleicht, dass wir eine ermittelnde Behörde sind.«
Der Angestellte lächelte. »Exzellent. Darf ich es lesen?«
Velsmann reichte ihm die Kopie. Breitenbach beobachtete seine Reaktionen.
»Hören Sie, Herr Kollege Velsmann«, mischte sich der Beamte aus Koblenz ein. »Ich denke, wir müssen ein paar Kompetenzen klären. Und es gibt da etwas, das Sie nicht wissen können. Vielleicht können wir auch das im Anschluss besprechen.«
Velsmann nickte.
»Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was diese Kopie mit Ihrem Mord zu tun haben soll, Inspektor«, warf einer der Herren ein.
»Es funktioniert wie zwei geladene Pole«, erwiderte Velsmann. »Wenn man sie annähert, entsteht ein Kontakt, eine Strombrücke, und dann gibt es Funken.«
»Oder auch nicht«, sagte der Mann.
»In diesem Fall ist es so, glauben Sie mir. Das zu erläutern, führt zu weit, ich habe auch keine Zeit dafür. Akzeptieren Sie einfach diesen Zusammenhang.«
»Im Jahr 2012 geht die Welt unter – und im Kloster Eberbach liegt der Schlüssel dafür verborgen?«
»Diese Frage wird populär«, sagte Karen Breitenbach.
»Diese Kopie«, sagte einer der namenlosen Herren, »dürften Sie nicht haben, das wissen Sie?«
Velsmann blickte den Sprecher an, der ganz ohne Erregung geredet hatte. In seinem intelligenten Gesicht stand ein feines Lächeln.
»In diesem Fall ist vieles so, wie es nicht sein dürfte. Ich wünschte, Sie alle hier würden sich endlich anstrengen, etwas Verwertbares auszusagen, das zur Aufklärung beiträgt. Stattdessen spüre ich diesen klammheimlichen Widerstand. Sie reden doch um den heißen Brei herum. Warum?«
»Es ist hier nicht alles so – wie es sein sollte, das sagen Sie ja selbst«, erklärte der Weißhaarige zögernd. »Aber das ist in jeder Behörde so, das kennen Sie wahrscheinlich auch.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Velsmann, der langsam die Geduld verlor.
»Es gab in den letzten zwanzig Jahren einige Pannen«, erklärte der Weißhaarige weiter. »Wir mussten durchgreifen. Auch zwischen Frau Kessler und einigen Herren gab es, nun sagen wir – Meinungsverschiedenheiten.«
»Meinungsverschiedenheiten!« Velsmann ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Was heißt das?«
»Es ging um die Einordnung von Fundstücken, die uns anvertraut wurden. Zeitbestimmungen, Zuordnungen, nichts, was Sie interessieren dürfte. Aber darüber gab es heftigen Streit, die Leitung des Bundesarchivs musste eingreifen, einige Kollegen wurden entlassen. Wir müssen Herrn Sennsler und auch Frau Kessler danken, die damals sehr mäßigend gewirkt haben. Leider hat sich Frau Kessler später beruflich anderweitig orientiert.«
»Ja, wir haben es hingekriegt«, sagte Sennsler zufrieden.
»Nach ihrem Weggang machte Frau Kessler angeblich eine Weltreise. Wissen Sie etwas darüber?«
Allgemeines, stummes Kopfschütteln.
Velsmann streckte die Hand aus.
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