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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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er noch nie an dem See im Norden gewesen und auch noch nie in einem Wasserflugzeug geflogen war, kamen ihm das Wasser, das umliegende Ufer und jedes Bild des Anflugs und der Landung so vertraut vor wie der Blaue-Kapsel-Traum. All die Jahre, seit er seine Hand das erste Mal verloren hatte, erschienen ihm mittlerweile kürzer als der Schlaf einer einzigen Nacht; doch all die Jahre hatte er sich unablässig gewünscht, der Schmerztabletten-Traum würde wahr werden. Und nun endlich hatte Patrick Wallingford keinen Zweifel, daß er in ebendiesem Traum gelandet war.
    Er betrachtete es als gutes Omen, daß die unzähligen Mitglieder der Familie Clausen nicht en masse in die diversen Hütten und Nebengebäude eingefallen waren. War es Rücksichtnahme auf Doris' heikle Situation - eine alleinerziehende Mutter, eine Witwe mit einem potentiellen Freier -, die Otto seniors Familie übers Wochenende von dem Seegrundstück fernhielt? Hatte Doris um diese Rücksicht gebeten? Und wenn ja, rechnete sie dann damit, daß das Wochenende sich womöglich romantisch gestaltete?
    Falls ja, ließ sie sich nichts davon anmerken. Sie hatte eine lange Liste von Dingen zu erledigen, um die sie sich ganz sachlich kümmerte. Wallingford sah ihr dabei zu, wie sie die Zündflammen des PropangasBoilers, des Kühlschranks und des Herdes anzündete. Er trug das Baby. Patrick hielt den kleinen Otto im linken Arm, ohne Hand, weil er Mrs. Clausen manchmal mit der Taschenlampe leuchten mußte. Der Schlüssel zur Haupthütte hing an einem Nagel an einem Balken des Sonnendecks; der Schlüssel zu der Wohnung über dem Bootshaus hing an einem Brett unter dem Bootssteg.
    Es war nicht nötig, sämtliche Hütten und Nebengebäude aufzuschließen und zu öffnen - sie würden sie nicht benutzen. Der kleinere, mittlerweile für Werkzeug genutzte Schuppen war ein Außenklo gewesen, ehe es Installationen gab und man Wasser vom See heraufpumpte. Mrs. Clausen pumpte gekonnt vor und zog dann an der Schnur, die den Benzinmotor des Geräts startete.
    Sie bat Patrick, eine tote Maus zu beseitigen, und hielt den kleinen Otto, während Patrick die Maus aus der Falle entfernte und unter ein paar Blättern und Kiefernnadeln verscharrte. Die Mausefalle war in einem Küchenschrank aufgestellt. Mrs. Clausen entdeckte das tote Nagetier, als sie die Lebensmittel wegräumte.
    Doris mochte Mäuse nicht - sie waren schmutzig. Sie ekelte sich vor dem Kot, den die Tiere, wie sie sagte, an »den unmöglichsten Stellen« überall in der Küche hinterließen. Sie bat Patrick, auch den Mäusekot zu beseitigen. Und noch weniger als den Kot mochte sie die Plötzlichkeit, mit der sich Mäuse bewegten. (Vielleicht hätte ich doch Wilbur und Charlotte anstatt Klein Stuart mitbringen sollen, sorgte sich Wallingford.) Sämtliche Nahrungsmittel in Pappkartons, Papier- oder Plastiktüten mußten wegen der Mäuse in Blechdosen verstaut werden; über den Winter konnte man nicht einmal Konserven ungeschützt zurücklassen. Einmal hatte sich im Winter etwas durch die Dosen genagt - wahrscheinlich eine Ratte, vielleicht aber auch ein Nerz oder ein Wiesel. Ein andermal war ein Tier, bei dem es sich mit ziemlicher Sicherheit um einen Vielfraß handelte, in die Haupthütte eingebrochen und hatte in der Küche Unterschlupf gesucht; das Tier hatte eine fürchterliche Schweinerei zurückgelassen.
    Patrick begriff, daß dies alles zum Sommerlager-Sagengut des Cottage gehörte. Auch ohne daß die anderen Clausens anwesend waren, konnte er sich mühelos vorstellen, wie man hier lebte. In der Haupthütte, wo sich Küche und Eßzimmer - und außerdem das größte Badezimmer - befanden, sah er die auf Regalen gestapelten Brettspiele und Puzzles. Bücher gab es so gut wie keine, bis auf ein Wörterbuch (zweifellos um Auseinandersetzungen beim Scrabble zu schlichten) und die üblichen Naturführer, anhand deren sich Schlangen und Amphibien, Insekten und Spinnen, Wildblumen, Säugetiere und Vögel bestimmen lassen. Außerdem waren in der Haupthütte die Gespenster festgehalten, die hier umgegangen waren oder noch umgingen - eingefangen in schlichten, an den Rändern aufgebogenen Schnappschüssen. Einige der Fotos waren vom vielen Sonnenlicht stark verblaßt; andere hatten Rostflecken von den alten Reißnägeln, mit denen sie an den groben Kiefernholzwänden befestigt waren.
    Und es gab noch andere Andenken, die von Gespenstern zeugten. Präparierte Hirschköpfe oder bloß Geweihe; ein Krähenschädel, der ein sauberes

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