Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
würde.
    Er hatte törichterweise gehofft, daß die Operation selbst so faszinierend sein würde, daß er für das Fernsehpublikum bald »der Typ mit der neuen Hand« oder sogar »der Mann mit der neuen Hand« sein würde und daß diese revidierte oder wiederhergestellte Version seiner selbst den »Löwenmann« und den »Katastrophenmann« als neue, aber dauerhafte Etikettierung seines Lebens ersetzen würde. Das Filmmaterial zeigte einige grausige Vorgänge unklarer, aber chirurgischer Natur in der Bostoner Klinik und eine Einstellung davon, wie Patricks Trage einen Flur entlanggeschoben würde; doch die Trage und Wallingford entzogen sich bald dem Blick, weil sie von siebzehn hektisch wirkenden Chirurgen, Schwestern und Anästhesisten - dem Bostoner Team - umringt waren. Es folgte ein Ausschnitt von Dr. Zajacs knappen Ausführungen vor der Presse. Natürlich wurde sein Kommentar von wegen »noch nicht über den Berg« aus dem Zusammenhang gerissen, so daß der Eindruck entstand, der Patient schwebe bereits in größter Gefahr, und die Bemerkung über die Kombination von Immunsuppressorien klang schlicht und einfach ausweichend, was sie auch war. Zwar haben derartige Medikamente die Erfolgsquote von Organtransplantationen erhöht, doch ein Arm besteht aus mehreren unterschiedlichen Geweben, so daß unterschiedliche Grade von Abstoßungsreaktionen möglich sind. Daher auch die Steroide, die Wallingford (zusammen mit den Immunsuppressorien) für den Rest seines Lebens, oder solange er Ottos Hand hatte, würde einnehmen müssen.
    Man sah eine Einstellung von Ottos verlassenem Bierlaster auf dem verschneiten Parkplatz in Green Bay, doch Mrs. Clausen, an Patricks Bett, zuckte nicht mit der Wimper; sie blieb auf Ottos drei Fingerspitzen und die Spitze seines Daumens konzentriert. Außerdem war Doris der früheren Hand ihres Mannes so nah, wie es nur ging; wenn Wallingford Gefühl in den Fingerspitzen gehabt hätte, hätte er den Atem der Witwe darauf gespürt.
    Die Finger waren taub. Daß sie es noch monatelang bleiben würden, sollte Patrick mit einiger Sorge erfüllen, obwohl Dr. Zajac seine Ängste als unbegründet abtat. Es vergingen fast acht Monate, bis die Hand zwischen heiß und kalt unterscheiden konnte - ein Zeichen, daß die Nerven sich regenerierten -, und beinahe ein Jahr, bis Patrick seinem Griff um ein Lenkrad so weit traute, daß er Auto zu fahren wagte. (Sich seine Schnürsenkel selbst binden konnte er ebenfalls erst nach knapp einem Jahr und vielen Stunden Physiotherapie.)
    Doch vom journalistischen Standpunkt aus betrachtet, sah Patrick Wallingford dort, in seinem Krankenhausbett, das Menetekel an der Wand - seine vollständige Genesung, oder deren Ausbleiben, würde niemals die eigentliche Story sein.
    Der Medizinethiker kam vor der Kamera länger zu Wort, als der internationale 24-Stunden-Kanal Dr. Zajac eingeräumt hatte. »In derartigen Fällen«, tönte der Ethiker, »ist eine Aufrichtigkeit, wie sie Mrs. Clausen zeigt, selten, und ihre fortbestehende Beziehung zu der Spenderhand ist von unschätzbarem Wert.«
    In was für »derartigen Fällen«? dachte Zajac bestimmt, während er - ausgeblendet - vor sich hin schäumte. Das war erst die zweite Handtransplantation überhaupt, und die erste war schiefgegangen! Während der Ethiker noch sprach, sah Wallingford, wie sich die Kameras auf Mrs. Clausen richteten. Patrick verspürte eine Flut von Verlangen und Sehnsucht nach ihr. Er befürchtete, nie wieder an sie heranzukommen, denn er ahnte, daß sie das nicht unterstützen würde. Er mußte mit ansehen, wie sie die Aufmerksamkeit der versammelten Medienvertreter von seiner Handtransplantation auf die Hand ihres verstorbenen Mannes und dann auf das Kind lenkte, das sie zu erwarten hoffte. Man sah sogar eine Nahaufnahme ihrer Hände, wie sie ihren flachen Bauch hielten. Sie hatte die rechte Hand über ihren Bauch gespreizt; die linke, schon ohne Ehering, lag darüber.
    Als Journalist wußte Patrick Wallingford augenblicklich, was passiert war: Doris Clausen und das Kind, das sie und Otto sich gewünscht hatten, hatten seine Story verdrängt. Wallingford war sich bewußt, daß es in seinem verantwortungslosen Beruf manchmal zu einer solchen Ablösung kam - nicht, daß der Fernsehjournalismus der einzige verantwortungslose Beruf wäre.
    Aber im Grunde machte ihm das nichts aus, und das überraschte ihn. Soll sie mich ruhig verdrängen, dachte er und wurde sich im gleichen Moment darüber klar, daß er in

Weitere Kostenlose Bücher