Die vierte Hand
Doris Clausen verliebt war. (Nicht abzusehen, was der Nachrichtensender oder ein Medizinethiker daraus gemacht hätten.)
Daß er sich in Mrs. Clausen verliebt hatte, war auch deshalb so unglaublich, weil er erkannte, wie unwahrscheinlich es war, daß sie ihn jemals wiederlieben würde. Bislang hatte Patrick die Erfahrung gemacht, daß Frauen sich, zumindest anfangs, leicht in ihn verknallten; er hatte außerdem die Erfahrung gemacht, daß sie leicht über ihn hinwegkamen. Seine Exfrau hatte ihn mit der Grippe verglichen. »Als du noch bei mir warst, Patrick, habe ich jede Stunde geglaubt, ich würde sterben«, hatte Marilyn zu ihm gesagt. »Aber als du weg warst, kam es mir vor, als hätte es dich nie gegeben.«
»Danke«, hatte Wallingford gesagt; bis jetzt war er nie so leicht zu verletzen gewesen, wie die meisten Frauen meinten. An Doris Clausen faszinierte ihn, daß ihre ungewöhnliche Entschlossenheit eine sexuelle Komponente hatte; was sie wollte, war jederzeit auch deutlich sexuell motiviert. Was mit den leisen Veränderungen ihres Tonfalls begann, setzte sich in der Intensität ihres kleinen, kompakten Körpers fort, der aufgezogen war wie eine Feder, zum Sex gespannt. Ihr Mund wirkte weich, die Öffnung der Lippen war vollkommen; und in der unbestimmten Müdigkeit um ihre Augen lag ein verführerisches SichAbfinden mit der Welt, wie sie war. Mrs. Clausen würde nie von einem verlangen, daß man sich grundsätzlich änderte - allenfalls vielleicht seine Gewohnheiten. Sie erwartete keine Wunder. Was man in ihr sah, bekam man auch, nämlich eine Loyalität, die keine Grenzen kannte. Und es schien, als würde sie niemals über Otto hinwegkommen - es hatte sie lebenslang erwischt.
Doris hatte Patrick Wallingford für die einzige Aufgabe benutzt, die Otto nicht zu Ende bringen konnte; daß sie ihn dazu ausersehen hatte, machte ihm leise Hoffnungen, daß sie sich eines Tages in ihn verlieben würde. Als Wallingford das erste Mal ganz leicht mit Otto Clausens Fingern wackelte, fing Doris an zu weinen. Die Schwestern waren angehalten, streng mit ihr zu sein, falls sie versuchen sollte, die Fingerspitzen zu küssen. Es erfüllte Patrick mit einer Art bitterem Glücksgefühl, als dennoch ein paar Küsse ihr Ziel fanden.
Und noch lange nachdem die Verbände abgenommen worden waren, erinnerte er sich an das erste Mal, als er ihre Tränen auf dem Rücken jener Hand gespürt hatte; das war etwa fünf Monate nach der Operation gewesen. Er hatte den Zeitraum der größten Anfälligkeit, der, wie es hieß, vom Ende der ersten Woche bis zum Ende der ersten drei Monate dauerte, erfolgreich überstanden. Ihre Tränen zu spüren brachte ihn zum Weinen. (Zu diesem Zeitpunkt hatte er von der Verbindungsstelle bis zum Ansatz der Handfläche erstaunliche zweiundzwanzig Zentimeter Nervenneubildung vorzuweisen.)
Sein Bedarf an den diversen Schmerzmitteln schwand, wenn auch sehr langsam, doch er erinnerte sich noch an den Traum, den er sehr oft gehabt hatte, kurz nachdem die Wirkung der Medikamente eingetreten war. Irgendwer fotografierte ihn. Manchmal, auch als er schon keine Schmerzmittel mehr nahm, war das Geräusch eines Kameraverschlusses (in seinem Schlaf) ganz real. Das Blitzlicht schien weit entfernt zu sein, wie Wetterleuchten - unwirklich -, aber das Geräusch des Verschlusses war so deutlich, daß er beinahe aufwachte. Es lag in der Eigenart der Schmerzmittel, daß Wallinglord sich nicht erinnerte, wie lange er sie eingenommen hatte - vier, fünf Monate vielleicht? -, so wie es in der Eigenart des Traums lag, daß Wallingford sich nicht entsinnen konnte, je die fotografierten Bilder oder den Fotografen gesehen zu haben. Und zuweilen dachte er, es sei gar kein Traum, oder er war sich nicht sicher.
In der konkreten Wirklichkeit konnte er Doris Clausens Gesicht nach sechs Monaten tatsächlich spüren, wenn sie es in seinen linken Handteller drückte. Sie faßte seine andere Hand niemals an, und auch er versuchte nicht ein einziges Mal, sie damit anzufassen. Sie hatte ihm klargemacht, was sie für ihn empfand. Wenn er auch nur ihren Namen auf bestimmte Weise sagte, errötete sie und schüttelte den Kopf. Sie weigerte sich, über das eine Mal zu sprechen, als sie miteinander geschlafen hatten. Sie habe es tun müssen - mehr sagte sie nicht dazu. (»Es ging nicht anders.«)
Doch für Patrick bestand, wie schwach auch immer, die Hoffnung, daß sie eines Tages vielleicht erwägen würde, es wieder zu tun - ungeachtet dessen,
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