Die vierte Hand
siebenjährigen Jungen - wie Matthew David Scotts Sohn. Vor seinem geistigen Auge sah Patrick ständig diesen unbekannten kleinen Jungen in einem Baseballtrikot, die Hände wie die seines Vaters erhoben - beide feierten sie jenen Siegeswurf in Philadelphia. (Als einen »Siegeswurf« hatte irgendwer in den Medien ihn bezeichnet.)
»Ja?« wiederholte Irma. War sie ein mürrischer, sexbesessener Babysitter des kleinen Zajac? Oder war sie die Haushälterin, wobei sie sich für eine Haushälterin von Dr. Zajac zu derb anhörte. »Ist Dr. Zajac zu sprechen?« fragte Wallingford. »Hier spricht Mrs. Zajac«, antwortete Irma. »Wer will ihn denn sprechen?«
»Mein Name ist Patrick Wallingford. Dr. Zajac hat mich an -« »Nicky!« hörte er Irma schreien, obwohl sie die Sprechmuschel des Hörers teilweise mit der Hand abgedeckt hatte. »Es ist der Löwenmann!« Einen Teil der Hintergrundgeräusche konnte Wallingford identifizieren: fast sicher ein Kind, eindeutig ein Hund und das unverkennbare Dotzen eines Balles. Man hörte das Schrappen von Stuhlbeinen und das Schurren von Hundekrallen, die auf einem Holzboden Halt suchten. Es mußte eine Art Spiel sein. Versuchten sie gerade, den Ball von dem Hund fernzuhalten? Zajac kam schließlich atemlos ans Telefon. Als Wallingford mit der Schilderung seiner Symptome fertig war, fügte er hoffnungsvoll hinzu: »Vielleicht ist es ja bloß das Wetter.« »Das Wetter?« fragte Zajac. »Sie wissen schon - die Hitzewelle«, erklärte Patrick. »Halten Sie sich denn nicht die meiste Zeit in geschlossenen Räumen auf?« fragte Zajac. »Gibt es in New York keine Klimaanlagen?« »Es sind nicht jedesmal Schmerzen«, fuhr Wallingford weiter. »Manchmal ist es ein Gefühl, als würde etwas anfangen, was dann aber nicht weitergeht. Ich meine, man denkt, das Prickeln oder Stechen führt zu Schmerzen, aber das tut es nicht - es hört einfach auf, kaum daß es angefangen hat. Wie etwas, das unterbrochen wird... etwas Elektrisches.« »Ganz genau«, sagte Dr. Zajac. Was Wallingford denn erwartet habe? Zajac erinnerte ihn daran, daß er nur fünf Monate nach der Transplantation schon zweiundzwanzig Zentimeter Nervenregeneration geschafft hatte.
»Ja, ich erinnere mich«, erwiderte Patrick.
»Na, dann sehen Sie's doch mal so«, meinte Zajac. »Diese Nerven haben eben immer noch was zu sagen.«
»Aber wieso erst jetzt!« fragte Wallingford ihn. »Es ist ein halbes Jahr her, daß ich die Hand verloren habe. Ich habe immer mal was gespürt, aber nichts derart Spezielles. Es fühlt sich tatsächlich so an, als berühre ich etwas mit dem linken Mittelfinger oder dem linken Zeigefinger, dabei habe ich überhaupt keine linke Hand!«
»Was tut sich denn sonst so in Ihrem Leben?« fragte Dr. Zajac zurück. »Ich nehme an, Ihre Arbeit ist mit einem gewissen Streß verbunden? Ich weiß ja nicht, was sich in puncto Liebesleben bei Ihnen abspielt oder ob sich da überhaupt etwas abspielt, aber ich kann mich erinnern, daß Ihnen Ihr Liebesleben offenbar nicht ganz unwichtig war - haben Sie jedenfalls gesagt. Denken Sie dran, es gibt noch andere Faktoren, die auf die Nerven einwirken, auch auf Nerven, die abgeschnitten worden sind.« »Sie fühlen sich aber nicht abgeschnitten an - genau davon rede ich doch«, sagte Wallingford.
»Und ich rede von folgendem«, erwiderte Zajac. »Was Sie fühlen, ist unter dem medizinischen Begriff ›Parästhesie‹ bekannt - eine falsche Empfindung außerhalb der Wahrnehmung. Der Nerv, der dafür zuständig war, daß Sie Schmerzen oder eine Berührung in Ihrem linken Mittelfinger oder linken Zeigefinger verspürt haben, ist zweimal durchtrennt worden - zuerst von einem Löwen und dann von mir! Diese abgeschnittene Faser sitzt noch immer im Stumpf Ihres Nervenbündels, zusammen mit Millionen anderer Fasern, die von überall her kommen und überallhin führen. Wenn dieses Neuron an der Spitze Ihres Nervenstumpfs gereizt wird - durch Berührung, durch eine Erinnerung, durch einen Traum -, schickt es dieselbe Botschaft, die es immer geschickt hat. Die Gefühle, die von der Stelle zu kommen scheinen, wo früher Ihre linke Hand war, werden von denselben Nervenfasern und -bahnen registriert, die früher von Ihrer linken Hand gekommen sind. Verstehen Sie?«
»So einigermaßen«, erwiderte Wallingford. (»Eigentlich nicht«, hätte er sagen sollen.) Er sah immerzu auf seinen Stumpf - dort krabbelten wieder die unsichtbaren Ameisen. Er hatte vergessen, Dr. Zajac von dem Gefühl
Weitere Kostenlose Bücher