Die vierte Hand
zynischerweise vor. Er überlegte flüchtig, ob Mary dasein würde. (Es war der alte Patrick Wallingford, der sich das überlegte.) Aber er fragte Mary nicht, ob sie zu den Frauen gehörte, die sein Sommerhaus an diesem Wochenende benutzten. Dann nämlich hätte sie gewußt, daß er nichts vorhatte, und angeboten, ihre Pläne zu ändern.
Wallingford unterschätzte noch immer, wie sensibel und verletzlich Frauen mit einem starken, unerfüllten Kinderwunsch sind; eine zweitägige Baby-Geschenkparty war wohl kaum nach Marys Geschmack. Und so saß Patrick an einem Freitag Mitte Juli in New York, hatte fürs Wochenende nichts vor und wußte nicht, wohin. Während er für die Freitagabendnachrichten in der Maske saß, überlegte er, Mrs. Clausen anzurufen. Er hatte sich nie selbst nach Green Bay eingeladen, sondern stets darauf gewartet, daß er eingeladen wurde. Doch sowohl Doris als auch Patrick waren sich bewußt, daß die Abstände zwischen den Einladungen länger geworden waren. (Bei seinem letzten Besuch in Wisconsin hatte dort noch Schnee gelegen.)
Und wenn er sie einfach anriefe und sagte: »Hi! Was macht ihr beide dieses Wochenende? Wie wär's, wenn ich nach Green Bay käme?« Bemerkenswerterweise tat er es einfach, ohne noch einmal zu überlegen; er rief sie aus heiterem Himmel an.
»Hallo«, sagte ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter. »Der kleine Otto und ich sind übers Wochenende in den Norden gefahren. Telefonisch nicht erreichbar. Am Montag wieder da.«
Er hinterließ keine Nachricht, aber er hinterließ etwas Schminke auf der Sprechmuschel des Telefons. Der Klang von Mrs. Clausens Stimme auf dem Anrufbeantworter und mehr noch das halb imaginierte, halb erträumte Bild von ihr vor der Hütte am See brachten ihn so aus der Fassung, daß er die Schminke, ohne nachzudenken, mit der linken Hand von der Sprechmuschel zu wischen versuchte. Er war überrascht, als sein linker Unterarmstumpf mit dem Telefon in Berührung kam - das war das erste Stechen.
Als er auflegte, setzten sich die prickelnden Gefühle fort, Immer wieder sah er seinen Stumpf an und rechnete damit, Ameisen oder andere kleine Insekten über das Narbengewebe krabbeln zu sehen. Aber da war nichts. Daß unter dem Narbengewebe keine Insekten sein konnten, wußte er, dennoch spürte er sie die ganze Sendung über. Später bemerkte Mary, daß sein normalerweise fröhlicher Gutenachtgruß an Doris und den kleinen Otto etwas Teilnahmsloses gehabt habe, aber Wallingford wußte, daß die beiden nicht zugeschaut haben konnten. In dem Cottage am See gab es keinen Strom - das hatte ihm Mrs. Clausen gesagt. (Im allgemeinen schien sie nicht bereit, über die Hütte im Norden zu reden, und wenn sie es doch einmal tat, war ihre Stimme gehemmt und schwer zu verstehen.)
Die prickelnden Gefühle setzten sich fort, während Patrick sich die Schminke entfernen ließ; seine Haut kribbelte. Weil er an irgend etwas dachte, was Dr. Zajac zu ihm gesagt hatte, wurde ihm nur vage bewußt, daß die Maskenbildnerin, die sonst hier arbeitete, im Urlaub war. Er vermutete, daß sie auf ihn stand - er war noch nicht in Versuchung gekommen. Es war wohl die Art, wie sie ihren Kaugummi kaute, die ihm fehlte. Erst jetzt, wo sie nicht da war, stellte er sie sich flüchtig anders als sonst vor - nackt. Doch das übernatürliche Stechen in seiner Nichthand lenkte ihn immer wieder ab, genau wie seine Erinnerung an Dr. Zajacs unverblümt geäußerten Rat.
»Eiern Sie nicht lange herum, wenn Sie jemals glauben, Sie brauchen mich.« Deshalb eierte Patrick nicht lange herum. Er rief Zajac zu Hause an, obwohl er annahm, daß Bostons berühmtester Handchirurg seine Sommerwochenenden außerhalb der Stadt verbrachte. Tatsächlich hatte Zajac in diesem Sommer auch ein Haus in Maine gemietet, allerdings nur für den Monat August, in dem er Rudy bei sich hatte und wo Medea, die nun öfter Kumpel genannt wurde, fast eine Tonne rohe Venus- und Miesmuscheln samt Schale fressen sollte; der Hund hatte den Geschmack an seinem eigenen Kot offenbar überwunden, und Rudy und Zajac spielten mit einem Lacrosseball Lacrosse. Der Junge hatte in der ersten Juliwoche sogar an einem Lacrosselehrgang teilgenommen. Er war übers Wochenende bei Zajac in Cambridge, als Wallingford anrief.
Irma nahm ab. »Ja, was ist denn?« fragte sie.
Wallingford erwog die entfernte Möglichkeit, daß Dr. Zajac eine ungebärdige Tochter im Teenageralter hatte. Er wußte nur von einem kleineren Kind, einem sechs- oder
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