Die vierte Hand
krabbelnder Ameisen zu erzählen, aber der Arzt ließ ihm gar keine Zeit dazu.
Dr. Zajac spürte, daß sein Patient nicht zufrieden war. »Hören Sie«, fuhr er fort, »wenn Sie sich deswegen Sorgen machen, dann fliegen Sie her. Nehmen Sie sich ein Zimmer in einem schönen Hotel. Wir treffen uns dann morgen früh.«
»Am Samstag morgen?« sagte Patrick. »Ich möchte Ihnen nicht das Wochenende verderben.«
»Ich fahre sowieso nicht weg«, antwortete Dr. Zajac. »Ich muß bloß jemanden finden, der das Gebäude aufschließt. Ich habe das schon öfter gemacht. Schlüssel zur Praxis habe ich.«
Eigentlich machte sich Patrick wegen seiner fehlenden Hand keine Sorgen mehr, aber was sollte er sonst an diesem Wochenende anfangen? »Na los - nehmen Sie den Shuttle hierher«, sagte Zajac zu ihm. »Wir sehen uns dann morgen früh, nur damit Sie beruhigt sind.« »Um welche Zeit?« fragte Wallingford.
»Um zehn. Nehmen Sie sich ein Zimmer im ›Charles‹ - das ist in Cambridge, in der Bennett Street, ganz in der Nähe des Harvard Square. Die haben einen tollen Fitneßraum und einen Pool.«
Wallingford gab nach. »Okay. Dann laß ich mir mal ein Zimmer reservieren.«
»Ich lasse Ihnen eines reservieren«, sagte Zajac. »Man kennt mich dort, und Irma ist Mitglied im Fitneßklub.« Irma, folgerte Wallingford, mußte die Ehefrau sein - die mit der nicht ganz goldenen Zunge. »Danke« war alles, was Wallingford herausbrachte. Im Hintergrund hörte er das fröhliche Gekreische von Dr. Zajacs Sohn, das Geknurre und Herumgetolle des offenbar außer Rand und Band geratenen Hundes, das Aufspringen des harten, schweren Balls.
»Nicht auf meinem Bauch!« schrie Irma. Auch das hörte Patrick. Nicht was auf ihrem Bauch? Er konnte nicht wissen, daß Irma schwanger war, und schon gar nicht, daß sie Zwillinge erwartete; Geburtstermin war zwar erst Mitte September, aber sie hatte bereits einen Umfang wie der größte Vogelkäfig im Haus. Natürlich wollte sie nicht, daß ihr ein Kind oder ein Hund auf dem Bauch herumhüpfte.
Patrick sagte der Bande im Nachrichtenstudio gute Nacht; vom Team der Abendnachrichten war er nie der letzte gewesen, der ging. Er war es auch an diesem Abend nicht, denn Mary erwartete ihn bei den Fahrstühlen. Was sie von seinem Telefongespräch mitbekommen hatte, hatte sie irregeführt. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Wer ist sie?« fragte Mary ihn. »Wer ist wer?« sagte Wallingford.
»Sie muß verheiratet sein, wenn du sie Samstagmorgens siehst.« »Mary, bitte -«
»Wem wolltest du denn nicht das Wochenende verderben?« fragte sie.
»So hast du es doch formuliert?«
»Mary, ich fliege nach Boston zu meinem Handchirurgen.«
»Allein?«
»Ja, allein.«
»Dann nimm mich mit«, sagte Mary. »Wenn du allein bist, kannst du mich doch mitnehmen. So lange dauert das ja wohl nicht mit deinem Handchirurgen. Den Rest des Wochenendes kannst du dann mit mir verbringen!«
Er ging ein Risiko ein, ein großes Risiko, und sagte ihr die Wahrheit. »Mary, ich kann dich nicht mitnehmen. Ich will nicht, daß du ein Kind von mir bekommst, weil ich schon ein Kind habe, von dem ich nicht genug zu sehen kriege. Ich will nicht noch ein Kind, von dem ich nicht genug zu sehen kriege.«
»Ach so«, sagte sie, als hätte er sie geschlagen. »Verstehe, Das klärt einiges. Du drückst dich nicht immer so klar aus, Pat. Ich weiß es zu schätzen, daß du dich so klar ausgedrückt hast.« »Es tut mir leid, Mary.«
»Es ist der kleine Clausen, stimmt's? Ich meine, er ist eigentlich von dir. Ist es so, Pat?«
»Ja«, erwiderte Patrick. »Aber das ist keine Nachricht, Mary. Bitte mach keine Nachricht daraus.«
Er konnte sehen, daß sie wütend war. Die Klimaanlage war kühl, ja kalt, aber Mary war plötzlich noch kälter. »Was glaubst du denn, wer ich bin?« knurrte sie. »Wofür hältst du mich eigentlich?« »Für eine von uns« war alles, was Wallingford sagen konnte. Während sich die Fahrstuhltüren schlossen, konnte er sie auf und ab gehen sehen; sie hatte die Arme vor ihren kleinen, wohlgeformten Brüsten verschränkt, und sie trug einen hellbraunen Rock und eine pfirsichfarbene Strickjacke, die am Hals zugeknöpft, ansonsten aber offen war - »eine Antiklimaanlagenjacke« hatte er eine von den Frauen aus dem Nachrichtenstudio solche Jacken nennen hören. Mary trug die Jacke über einem weißen Seiden-T-Shirt. Sie hatte einen langen Hals, eine hübsche Figur und glatte Haut, und Patrick gefiel besonders ihr Mund, der
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