Die vierte Hand
etwas an sich hatte, dessentwegen er sein Prinzip, nicht mit ihr zu schlafen, in Frage stellte.
Auf La Guardia wurde er auf die Stand-by-Liste für den Shuttle nach Boston gesetzt; beim zweiten Flug bekam er einen Platz. Es wurde gerade dunkel, als sein Flugzeug auf dem Logan Airport landete, und über Boston Harbor lag leichter Nebel oder Dunst.
Patrick sollte später darüber nachdenken, als er sich entsann, daß sein Flugzeug ungefähr zur gleichen Zeit in Boston landete, zu der John F. Kennedy jr. sein Flugzeug auf dem Flugplatz von Martha's Vineyard, nicht sehr weit weg, zu landen versuchte. Oder aber der junge Kennedy versuchte, Martha's Vineyard durch das gleiche unbestimmte Licht hin-durch, in ähnlichem Dunst, zu sehen.
Wallingford bezog sein Zimmer im ›Charles‹ vor zehn und begab sich sofort ins Hallenbad, wo er eine erholsame halbe Stunde für sich allein verbrachte. Er wäre noch länger geblieben, aber das Hallenbad schloß um halb elf. Wallingford - mit seiner einen Hand - genoß es, sich treiben zu lassen und Wasser zu treten. Seiner Persönlichkeit entsprechend verstand er sich gut aufs Treibenlassen.
Eigentlich hatte er vorgehabt, sich nach dem Schwimmen anzuziehen und am Harvard Square herumzubummeln. Die Sommerkurse hatten begonnen; bestimmt gab es studentisches Leben zu sehen, das ihn an seine vertane Jugend erinnern würde. Wahrscheinlich konnte er auch ein Lokal finden, wo es ein anständiges Essen und eine gute Flasche Wein gab. In einem der Buchläden am Square würde er vielleicht sogar eine packendere Lektüre auftreiben als das Buch, das er mitgebracht hatte: eine Byron-Biographie von der Größe eines Hohlblocks. Doch schon im Taxi zum Hotel hatte Wallingford gespürt, wie die drückende Hitze ihm zusetzte; und als er vom Hallenbad in sein Zimmer zurückgekehrt war, zog er seine nasse Badehose aus, legte sich nackt aufs Bett und machte ein, zwei Minuten lang die Augen zu. Er war wohl müde. Als er fast eine Stunde später aufwachte, hatte die Klimaanlage ihn durchgekühlt. Er zog einen Bademantel an und las die Speisekarte des Zimmerservice. Alles, was er wollte, war ein Bier und einen Hamburger - zum Ausgehen hatte er keine Lust mehr.
Er blieb sich selbst treu und machte übers Wochenende nicht den Fernseher an. Angesichts dessen, daß die Byron-Biographie die einzige Alternative darstellte, war seine Stand haftig keit in diesem Punkt um so bemerkenswerter. Doch Wallingford schlief so rasch ein - Byron war gerade mal geboren und der nutzlose Vater des kleinen Dichters noch am Leben -, daß die Biographie ihm keinerlei Schmerzen bereitete. Am anderen Morgen frühstückte er in dem gemütlichen Restaurant im Erdgeschoß des Hotels. Der Speisesaal irritierte ihn, ohne daß er wußte, warum. Die Kinder waren es jedenfalls nicht. Vielleicht waren zu viele Erwachsene da, die sich durch die bloße Anwesenheit von Kindern gestört fühlten.
Am Abend zuvor und an diesem Morgen, während Wallingford weder fernsah noch auch nur einen Blick in eine Zeitung warf, hatte die Nation eines der Nichtnachrichtenbilder des Fernsehens noch einmal erlebt. Das Flugzeug von JFK jr. wurde vermißt; wie es schien, war es ins Meer gestürzt. Aber zu sehen gab es nichts - das Fernsehen zeigte demzufolge immer wieder das Bild des kleinen Kennedy beim Leichenzug seines Vaters. Da stand John junior, ein Dreijähriger in kurzen Hosen, der vor dem vorüberziehenden Sarg seines Vaters salutiert - genau nach Anweisung seiner Mutter, die es ihm nur Sekunden zuvor ins Ohr geflüstert hat. Später sollte sich Wallingford überlegen, daß dieses Bild durchaus als repräsentativer Moment des goldensten Jahrhunderts in diesem Lande gelten durfte, eines Jahrhunderts, das ebenfalls gestorben ist, obwohl wir es noch immer vermarkten.
Als er mit Frühstücken fertig war, blieb er an seinem Tisch sitzen und bemühte sich, seinen Kaffee auszutrinken, ohne den unverwandten Blick einer Frau mittleren Alters auf der anderen Seite des Raums zu erwidern. Doch nun kam sie auf ihn zu. Ihr Kurs war wohlüberlegt; zwar tat sie so, als käme sie lediglich vorbei, aber Wallingford wußte, daß sie etwas zu ihm sagen würde. Das merkte er immer. Oft erriet er sogar, was die Frauen sagen würden, doch diesmal nicht.
Ihr Gesicht war einmal hübsch gewesen. Sie trug kein Make-up, und ihr ungefärbtes braunes Haar wurde schon grau. In den Krähenfüßen an den Winkeln ihrer dunkelbraunen Augen lag etwas Trauriges und Müdes, das Patrick
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