Die vierte Todsuende
mithin möglich — ja geradezu wahrscheinlich —, dass der Täter sich nicht unter den sechs ausgewählten Patienten befindet, sondern unter denen, die ich übergangen habe, während die von mir bezeichneten Personen völlig unschuldig sind.«
»Mrs. Ellerbee, Sie dürfen nicht denken, dass wir die von Ihnen bezeichneten Personen automatisch verdächtigen. Sie werden allerdings sorgfältig überprüft werden, doch wenn sich gegen sie keine Verdachtsmomente ergeben, werden wir notgedrungen zu anderen Patienten Ihres Mannes übergehen müssen. Sie dürfen also nicht glauben, indem Sie uns die Namen von den sechs Patienten geben, wären diese bereits so gut wie überführt. Die Ermittlungen in einem Mordfall werden mit großer Umsicht gehandhabt.«
»Das erleichtert mich etwas. Sie müssen sich vor Augen halten, dass Psychologie keine exakte Wissenschaft ist, sondern eine, ja sagen wir ruhig, eine Kunst. Wenn zwei geschickte und erfahrene Therapeuten sich einen Patienten vornehmen, können sie durchaus zu entgegengesetzten Resultaten kommen. Wenn Sie mal nachlesen, was psychiatrische Gutachter in Strafprozessen aussagen, werden Sie sofort verstehen, was ich meine.«
»Zu meiner Zeit nannte man sie Konfusionsräte, denn sie stifteten in der Verhandlung mehr Verwirrung als Klarheit.«
»Ich fürchte, das ist gar nicht so abwegig«, sagte sie bedauernd lächelnd, »denn auf diesem Gebiet gibt es kaum objektive Kriterien. Nun aber genug der Vorrede, ich zeige Ihnen jetzt, was ich für Sie habe.«
Sie ging zu einem kleinen Schreibtisch und nahm zwei mit der Maschine beschriebene Blätter.
»Sechs Patienten, vier Männer, zwei Frauen. Hier stehen Namen, Alter und Anschriften drauf. Ferner eine kurze Beschreibung, die sich auf die Notizen meines Mannes stützt und auf das, was er mir dazu gesagt hat. Zwar habe ich die Beschwerden der Patienten aufgeführt, aber auf terminologische Etiketten habe ich verzichtet — sie also nicht als Psychopathen, Manisch-Depressive oder Schizoide oder sonst wie bezeichnet. Es waren, wie gesagt, nicht meine Patienten, und ich weigere mich, eine Diagnose zu stellen. Also jetzt geht es los.«
Sie setzte eine Lesebrille mit Nickelrahmen auf, und die Brille verlieh ihrem Gesicht ganz überraschenderweise einen besonderen Charme; das altmodische Gestell ließ ihre Züge weicher wirken.
»Eine Rangfolge habe ich nicht getroffen«, erklärte sie, »anders ausgedrückt, der als erster aufgeführte Patient ist nicht der, den ich für den gefährlichsten halte. Alle sechs scheinen mir das Potential von Gewalttätern zu haben … Ich lese Ihnen nicht alles vor, was ich geschrieben habe, sondern nur die wichtigsten Punkte…
Nummer eins: Ronald J. Bellsey. Ronald ist 43 Jahre alt und kam dreimal die Woche zur Behandlung. Augenscheinlich ein ungemein jähzorniger, auch zur Gewalttätigkeit neigender Mensch. Suchte zum ersten Mal meinen Mann auf, nachdem er seine Frau schwer misshandelt hatte. Immerhin war er gescheit genug einzusehen, dass er Hilfe benötigte.
Nummer zwei: Isaac Kane, 28 Jahre alt. Einer jener Patienten, die von meinem Mann kostenlos behandelt wurden, und zwar einmal in der Woche in einem städtischen Krankenhaus. Isaac ist, was man einen ›idiot savant‹ nennt, wenngleich ich diesen Terminus verabscheue. Er ist keineswegs ein Idiot, aber er ist retardiert. Er malt sehr schöne Landschaften in Kreide, ausgesprochen professionelle Arbeiten. Es ist aber mehrmals vorgekommen, dass er Klinikpersonal tätlich angegriffen hat.
Nummer drei: Sylvia Mae Otherton, 46 Jahre alt. Sylvia kam regelmäßig zweimal die Woche, häufig aber außerdem zu allen möglichen anderen Zeiten. Leidet unter schweren Angstzuständen, von Platzangst angefangen bis zu Angst vor Männern mit Bart. Wagte sie sich, was selten genug vorkam, auf die Straße, attackierte sie ohne jeden Anlass bärtige Männer.«
»Trug Ihr Mann einen Bart, Madam?« fragte Boone.
»Nein, das tat er nicht. Nummer vier: L. Vincent Symington, 51 Jahre alt. Vincent leidet offenbar an ausgeprägtem Verfolgungswahn. Griff häufig Personen an, von denen er sich verfolgt glaubte, darunter auch seine alten Eltern. Kam dreimal die Woche.
Nummer fünf: Joan Yesell, 35 Jahre alt. Joan, eine sehr zurückgezogen lebende, schwer deprimierte Person, wohnt bei ihrer verwitweten Mutter. Drei Selbstmordversuche, deshalb führe ich sie auf. Fehlgeschlagene Selbstmordversuche verkehren sich häufig in Mordlust.
Als letzter Harold Gerber, 37
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