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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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blakten in der zugigen Abendluft. Sie konnten in der engen Gasse nur hintereinandergehen und hielten auf das Windlicht zu, das vor der Kapelle Sankt Nikolaus brannte. Als sie an ihrem Ziel angelangt waren, zog Stingin die Holztür auf. Sie tauchte ihren Finger in das Weihwasserbecken und bekreuzigte sich. Brid tat es ihr gleich. Sie setzten sich in die erste Reihe, legten die Beutel neben sich. Am Altar brannten Kerzen.
    Eine Weile saßen sie schweigend, und Stingin betrachtete das hölzerne Kreuz, das neben dem Altar an einer Säule angebracht war. Das Antlitz Jesu war darauf nicht so schön wie das auf dem Gerokreuz im Dom, wohin sie oft ging. Dennoch: Sein zartes, goldbraunes Gesicht, schlicht, wie schlafend fast und gar nicht leidend, sie wurde nicht müde, es anzuschauen.
    »Betest du schon?«, flüsterte Brid.
    »Nein«, bekannte Stingin.
    »Willst du ein Vaterunser beten?«, fragte Brid, noch immer im Flüsterton.
    »Nein.« Das Vaterunser drückte nicht aus, um was sie Gott bitten wollte. Und obwohl Stingin glaubte, dass es nicht erlaubt war, Ihn mit eigenen Worten anzusprechen, tat sie es meist. Hatte es immer getan.
    »Ich möchte«, hob sie leise und ohne Brid anzusehen an, »dass du verstehst, dass Frau Imhoff warmherzig und gut ist und dass es nicht rechtens sein kann, ihr alles wegzunehmen, wie der niederträchtige Engländer Charman das tun will. Ich weiß zwar nicht, wie das gehen soll, dass man Tuche mit einem Haus bezahlt, doch genau das will er, und sie wird die
Wolkenburg
verlieren, ebenso das Gasthaus, wenn er Recht erhält – und wo soll ich dann hin?«
    »Aber sagt das Gesetz nicht, dass die Ehefrau für die Schulden ihres Mannes aufkommen muss, wenn er nicht mehr bezahlen kann?«, fragte Brid.
    »Nein, sagt Frau Imhoff.«
    »Wenn es so ist, werden die Richter ihr die
Wolkenburg
auch nicht fortnehmen.«
    Stingin hörte Brids versöhnlichen Ton. So hatte sie ihre Sorge und Not endlich begriffen.
    »Lass uns beten«, raunte sie ihr zu. »Eine jede für sich, still.«
    Und so tat Stingin, wie sie es immer hielt, stumm und mit ihren eigenen Worten flehte sie um Beistand: Lieber Jesus, der Du für uns gelitten hast durch Deine heiligen Wunden, den Preis für unser Heil, erbarme Dich meiner Herrin, erbarme Dich unser. Hilf, dass sie ihr Haus nicht verliert und dass sie ihres Lebens wieder froh wird. Oh, süßer Jesus, bitte gib mir Kraft und steh mir morgen bei! Amen.

KAPITEL 6

14. 11. 1534

    Dritter Verhandlungstag

    S ie hatte es befürchtet: Ihr Hals war trocken vor Angst, ihre vor dem Bauch verschränkten Hände vor Verlegenheit eiskalt und schweißfeucht. Und in ihrem Magen machte der Haferbrei vom Morgen glucksende Geräusche.
    Stingin stand mit geneigtem Kopf vor dem hochachtbaren Richter und den gelehrten Schöffen, deren schwarze Roben ein Übriges taten. Niemals zuvor hatte sie so viele dunkel gekleidete Menschen in einem Raum gesehen. Es sah düster aus und bedrohlich, das viele Schwarz dort vorne auf dem erhöhten Platz. Da halfen auch die hohen, bleigefassten Fenster nicht. Das bisschen Licht, das sie vom trüben Novembermorgen hereinließen, schluckte der holzgetäfelte Gerichtssaal fast zur Gänze. Und die Kerzen, so trostvoll sie auch schienen, warfen zackige Schatten in den Raum. Kalt war es außerdem. Kaum Wärme strahlte vom Kamin im hinteren Eck aus.
    Der Name des Richters, der den Vorsitz führte – so hieß das, wie sie inzwischen wusste –, war Doktor Hauser. Er saß an seinem Pult und blätterte laut und mit ungehaltener Miene in Papieren. Der Mann neben ihm hatte sie soeben aufgerufen vorzutreten. Da vor ihm ein Tintenfass sowie ein Zinngefäß mit mehreren Federn darin standen, nahm sie an, dass er ein Schreiber war.
    Stingin lauschte dem Geraschel des Papiers, dem Gehüstel auf den Schöffenbänken beiderseits des Richters und hörte schließlich eine durchdringende Stimme fragen: »Du bist Stingin Bruwiler, Magd im Hause Imhoff in der Sternengasse im Schreinsbezirk Sankt Peter zu Köln?«
    »Ja.« Sie sah auf.
    Der Blick des Richters löste sich von seinen Unterlagen und heftete sich auf sie. »Du weißt, warum du geladen worden bist?«
    »Weil ich bezeugen soll, dass Frau Imhoff zur Unterzeichnung des Schuldscheins gezwungen worden ist.«
    »Und was hast du uns zu diesem Casus zu sagen?«
    Stingin schluckte. Casus. Wie abfällig er das betonte! Und wie beiläufig die Frage klang. Es war nicht irgendein Fall. Es ging um den Besitz ihrer Herrin. Sie war doch

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