Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
was wir erreichen wollen, durchhalten, sondern das Bewusstsein des Nichts.«
Am späten Abend zeigte ich Wüstenrose ihr Lager, und sie schlief auf der Stelle ein. Daraufhin ging ich in den Hauptraum zurück, wo sich Rumi und Schams miteinander unterhielten.
»Du solltest auch zu unserer Vorstellung kommen«, sagte Schams, als ich eintrat.
»Zu welcher Vorstellung?«
»Zu einem spirituellen Tanz, Kira, wie du ihn noch nie gesehen hast.«
Ich warf meinem Mann einen verwunderten Blick zu. Was war da los? Von welchem Tanz sprachen sie?
»Maulana, du bist ein hochgeachteter Gelehrter, kein Unterhaltungskünstler. Was sollen die Leute von dir denken?«, fragte ich. Mein Gesicht wurde ganz heiß, so sehr empörte ich mich.
»Sei unbesorgt«, entgegnete Rumi, »Schams und ich reden schon seit Langem darüber. Wir wollen den Sema vorführen, den Tanz der kreisenden Derwische. Alle, die sich nach der Liebe Gottes sehnen, sind herzlich eingeladen.«
Von einem Moment auf den anderen befiel mich ein fürchterlicher Kopfschmerz, aber er war nichts verglichen mit den Qualen meines Herzens.
»Und wenn es den Leuten nicht gefällt? Nicht jeder schätzt das Tanzen«, sagte ich zu Schams in der Hoffnung, ihn damit zum Schweigen zu bringen. »Ihr solltet das Ganze zumindest erst einmal verschieben.«
»Nicht jeder schätzt Gott«, warf Schams unverzüglich ein. »Sollen wir Ihn deshalb auch verschieben?«
Damit war die Unterredung beendet, es gab nichts mehr zu sagen. Durch das Haus rauschte der Wind, fuhr durch die Bretterwände und dröhnte in meinen Ohren.
SULTAN WALAD
KONYA, JUNI 1246
B etrachtend weiß das Auge, was es als schön empfindet«, pflegte Schams zu sagen. »Alle sehen denselben Tanz, aber jeder sieht ihn auf seine Weise. Warum also sich sorgen? Den einen wird es gefallen, den anderen nicht.«
Dennoch teilte ich Schams an dem Abend, an dem der Sema stattfinden sollte, meine Befürchtung mit, es könnte niemand zum Zuschauen kommen.
»Nur keine Angst«, sagte er forsch. »Die Stadtbewohner mögen mich zwar nicht, sind vielleicht nicht einmal mehr deinem Vater zugetan, aber über uns hinwegsehen können sie nicht. Ihre Neugier wird sie hertreiben.«
Und tatsächlich war die offene Halle am Abend der Vorführung dicht besetzt. Händler waren erschienen, Schmiede, Zimmerleute, Bauern, Steinmetze, Färber, Arzneiverkäufer, Zunftmeister, Schreiber, Töpfer, Bäcker, Klagemänner, Wahrsager, Rattenfänger, Parfümhändler – sogar Scheich Jassin war mit einer Gruppe von Schülern gekommen. Die Frauen saßen ganz hinten.
Zu meiner großen Erleichterung sah ich unseren Gebieter, Kai Chosrau, mit seinen Beratern in der ersten Reihe sitzen. Dass ein Mann von so hohem Stand meinen Vater unterstützte, würde alle bösen Zungen verstummen lassen.
Es dauerte lange, bis alle Zuschauer Platz genommen hatten, und auch als es so weit war, verebbte das Stimmengewirr aus aufgebracht gewispertem Getratsche nicht gänzlich. Da ich unbedingt neben jemandem sitzen wollte, der nicht schlecht über Schams sprechen würde, ließ ich mich neben dem Säufer Suleiman nieder. Der Mann stank zwar nach Wein, aber das war mir einerlei.
Meine Beine zitterten, meine Hände waren nass vor Schweiß, und obwohl es so warm war, dass alle ihre Umhänge ablegten, klapperte ich mit den Zähnen. Das Ansehen, das mein Vater genoss, schwand mehr und mehr, und daher war diese Aufführung unglaublich wichtig. Ich betete zu Gott, aber da ich nicht genau wusste, worum ich Ihn bitten sollte – außer darum, dass alles gut ausgehen würde –, war es nur ein halbherziges Gebet.
Plötzlich ertönten Klänge, zuerst aus weiter Ferne, dann kamen sie immer näher. So bezaubernd und anrührend waren sie, dass alle atemlos lauschten.
»Was für ein Instrument ist das?«, fragte mich Suleiman halb ehrfürchtig, halb entzückt im Flüsterton.
Ich erinnerte mich an ein Gespräch zwischen meinem Vater und Schams und antwortete: »Das ist eine Ney. Ihr Klang ähnelt dem Seufzer des Liebenden in Gedanken an den Geliebten.«
Die Ney verstummte, und mein Vater erschien auf der Bühne. Gemessenen, sachten Schrittes trat er vor und begrüßte die Zuschauer. Ihm folgten sechs Derwische, allesamt Schüler meines Vaters, in langen weißen Gewändern mit wallenden Röcken. Sie kreuzten die Arme vor der Brust und verbeugten sich vor meinem Vater, um von ihm gesegnet zu werden. Dann setzte die Musik ein, und ein Derwisch nach dem anderen begann sich zu drehen –
Weitere Kostenlose Bücher