Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
nicht wieder fortgeht. Er hat ihm Kimya auf einem Silbertablett serviert.«
Mein Bruder schürzte die Lippen und sah mich gekränkt an. »Ich weiß, was du denkst, aber du irrst dich. Du hältst es für eine erzwungene Heirat. Aber es war umgekehrt – Kimya wollte Schams ehelichen.«
»Als ob sie eine Wahl gehabt hätte«, blaffte ich ihn an.
»Oh Gott, du begreifst es einfach nicht!«, rief mein Bruder und hob die Hände in die Höhe, als wollte er Gott um Beistand bitten. »Sie ist in Schams verliebt.«
»Sag das nicht noch mal! Das ist nicht wahr!« Meine Stimme klang unsicher wie tauendes Eis.
»Lass dir nicht von deinen Gefühlen den Blick trüben, Bruder«, sagte Sultan Walad. »Du bist eifersüchtig. Aber selbst Eifersucht kann der Stärkung und einem höheren Ziel dienen. Die Regel Nummer fünfunddreißig besagt es: Nicht die Ähnlichkeiten und Regelmäßigkeiten bringen uns in dieser Welt einen Schritt voran, sondern die krassen Gegensätze. Und die Gegensätze des Universums sind allesamt in jedem von uns vorhanden. Deshalb muss der Gläubige seinen inneren Ungläubigen kennenlernen. Und der Ungläubige soll dem stillen Gläubigen in sich begegnen. Bis zu dem Tag, an dem die Stufe des Insan-i Kamil, des vollkommenen Menschen, erreicht ist, entwickelt sich der Glaube langsam und stetig fort und bedarf seines scheinbaren Gegenteils – des Unglaubens.«
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
»Ich habe es so satt, dieses süßliche Sufi-Gerede! Und warum sollte ich überhaupt auf dich hören? Du bist doch schuld an allem! Du hättest Schams in Damaskus lassen können. Warum hast du ihn zurückgebracht? Wenn es zu unschönen Vorfällen kommen sollte – und das wird zweifellos so sein –, dann bist du, nur du, dafür verantwortlich.«
Mein Bruder biss sich von innen auf die Wangen und sah mich beinahe furchtsam an. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass er zum ersten Mal Angst vor mir hatte – und vor dem, wozu ich fähig war. Es war ein sonderbares Gefühl, aber auch ein seltsam wohliges.
Auf dem Weg zu Irschad, in den faulig stinkenden Seitengassen, die ich einschlug, damit niemand mich weinen sah, hatte ich nur diesen einen Gedanken: Schams und Kimya teilen das Lager. Die Vorstellung, dass er ihr das Brautkleid ausziehen und ihre milchweiße Haut mit seinen rauen, hässlichen Händen berühren würde, war ekelerregend, und mein Magen krampfte sich zusammen.
Damit war eine Grenze überschritten. Irgendjemand musste etwas unternehmen.
KIMYA
KONYA, DEZEMBER 1247
B raut und Bräutigam – das hätten wir eigentlich sein sollen. Sieben Monate sind seit unserer Hochzeit vergangen, und in der ganzen Zeit hat er kein einziges Mal des Nachts wie ein Mann bei mir gelegen. Ich kann mich noch so sehr bemühen, die Wahrheit vor den Leuten zu verbergen, ich glaube doch, dass sie es wissen. Manchmal fürchte ich, man könnte mir die Scham vom Gesicht ablesen. Als wäre es mir auf die Stirn geschrieben, erkennt es jeder auf den ersten Blick. Wenn ich auf der Straße mit den Nachbarinnen plaudere, wenn ich im Obstgarten arbeite oder mit den Händlern im Basar feilsche, sehen alle, auch Fremde, sofort, dass ich verheiratet, aber immer noch Jungfrau bin.
Dabei kommt Schams sehr wohl in mein Zimmer. Wenn er mich abends besuchen will, fragt er jedes Mal vorher, ob es mir recht sei. Und jedes Mal gebe ich ihm dieselbe Antwort.
»Natürlich«, sage ich. »Du bist mein Ehemann.«
Dann warte ich den ganzen Tag gespannt auf ihn und hoffe und bete, dass unser ehelicher Bund diesmal bestätigt wird. Doch wenn er dann endlich an die Tür klopft, will er sich immer nur hinsetzen und reden. Oder mit mir zusammen etwas lesen. Wir haben Laila und Madschnun gelesen, Farhad und Schirin , Jussuf und Suleika , Die Rose und die Nachtigall – allesamt Geschichten von Liebenden, die großen Widrigkeiten trotzen. Obwohl die Hauptfiguren immer stark und entschlossen sind, machen mich diese Geschichten traurig. Vielleicht, weil ich tief im Herzen weiß, dass ich selbst mich nie einer so großen Liebe erfreuen werde.
Wenn wir keine Geschichten lesen, erzählt mir Schams von den vierzig Regeln der islamischen Wandermystiker, den Grundgedanken der Religion der Liebe. Einmal legte er, während er mir eine Regel erklärte, den Kopf auf meinen Schoß, schloss langsam die Augen, senkte die Stimme, bis er nur noch flüsterte, und schlief ein. Ich strich ihm mit den Fingern durch das lange Haar und küsste seine
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