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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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als hätte er einen glutheißen Ofen berührt. »Du glaubst, du willst mich, dabei willst du in Wahrheit nur dein verletztes Ich hätscheln.«
    Ich legte meine Arme um seinen Hals und küsste ihn mit aller Kraft. Ich stieß ihm meine Zunge in den Mund und bewegte sie vor und zurück, denn Wüstenrose hatte gesagt: »Jeder Mann liebt es, an der Zunge seiner Frau zu saugen, Kimya.«
    Seine Lippen schmeckten nach Brombeeren, süß und sauer. Doch als ich schon glaubte, ein Wirbel aus Lust verbände uns miteinander, gebot Schams mir Einhalt und schob mich von sich.
    »Du enttäuschst mich, Kimya. Würdest du jetzt bitte mein Zimmer verlassen?«
    So schroff er klang, so ausdruckslos blieb seine Miene. Kein Zorn, nicht die kleinste Verärgerung. Und ich wusste nicht, was mich mehr verletzte: die Schärfe seiner Worte oder die Leere in seinem Gesicht.
    Noch nie im Leben war ich so gedemütigt worden. Ich bückte mich nach meinem Gewand, aber meine Hände zitterten so stark, dass ich den seidenglatten, feinen Stoff nicht halten konnte. So ergriff ich nur das Schultertuch und legte es mir um. Schluchzend, keuchend und immer noch halb nackt lief ich hinaus, weg von ihm, weg von dieser Liebe, die, wie ich jetzt wusste, nur in meiner Vorstellung bestand.
    Ich sah Schams nie wieder. Nach diesem Tag verließ ich mein Zimmer nicht mehr. Ich lag nur noch im Bett – nicht weil ich es nicht vermochte hinauszugehen, sondern weil mir der Wille fehlte. Eine Woche verstrich, eine zweite; dann hörte ich auf, die Tage zu zählen. Alle Kraft war aus meinem Körper gewichen, war nach und nach versiegt. Nur meine Hände fühlten sich lebendig an. Sie erinnerten sich an die Berührung mit Schams’ Händen und an die Wärme seiner Haut.
    Bis dahin wusste ich nicht, dass der Tod einen Geruch verströmt. Es ist ein starker Geruch, der an eingelegten Ingwer und zerstoßene Piniennadeln erinnert, bitter und durchdringend, aber nicht unangenehm. Ich nahm ihn erst wahr, als er durch mein Zimmer zu wabern begann und mich feucht wie dichter Nebel umhüllte. Ich bekam hohes Fieber und fiel in einen todähnlichen Schlaf. Leute kamen und sahen nach mir, Nachbarinnen, Freundinnen. An einer Seite meines Bettes saß Kira, aschfahl, mit verquollenen Augen. Auf der anderen Seite stand Gevher und lächelte ihr sanftes Grübchenlächeln.
    »Dieser verdammte Ketzer!«, sagte Safija. »Das arme Mädchen ist krank, weil es ein gebrochenes Herz hat, und alles nur seinetwegen!«
    Ich wollte einen Laut von mir geben, aber er blieb mir in der Kehle stecken.
    »Wie kannst du so sprechen! Ist er vielleicht Gott?«, sagte Kira beschwichtigend. »Wie kannst du einem Sterblichen solche Kräfte beimessen?«
    Aber sie hörten nicht auf Kira, und ich war nicht in der Lage, irgendwen von irgendetwas zu überzeugen. Ohnehin wurde mir sehr bald klar, dass es keinen Unterschied machte, ob ich etwas sagte oder nicht. Diejenigen, die Schams nicht mochten, hatten mit meiner Krankheit einen weiteren Grund gefunden, um ihn zu hassen, während ich ihm nicht einmal dann hätte gram sein können, wenn ich es mir gewünscht hätte.
    Nach kurzer Zeit glitt ich in einen Zustand fast völliger Leere hinüber, in dem alle Farben zu Weiß verschmolzen und alle Geräusche zu einem unablässigen Dröhnen. Die Gesichter der Menschen verschwammen vor meinen Augen, und von dem, was sie sagten, hörte ich nur mehr ein fernes Summen.
    Ob Schams-e Tabrizi jemals mein Zimmer betrat, weiß ich nicht. Vielleicht tat er es nie. Vielleicht wollte er mich sehen, und die Frauen ließen ihn nicht hinein. Oder aber er kam doch und saß an meinem Bett, spielte stundenlang für mich auf der Ney, hielt meine Hand und betete für meine Seele. Ich würde es so gern glauben.
    Wie auch immer, es hatte keine Bedeutung mehr. Ich war nicht wütend und nicht böse auf ihn. Es wäre gar nicht möglich gewesen, denn ich trieb in einem Strom reinen Bewusstseins dahin.
    In Gott war so viel Güte und Mitleid und eine Erklärung für alles. Hinter all dem stand eine vollkommene Ordnung der Liebe. Zehn Tage nachdem ich in Seide und parfümiertes Tuch gehüllt Schams’ Zimmer aufgesucht hatte, zehn Tage nachdem ich krank geworden war, tauchte ich in einen Fluss reinen Nichtseins ein. Darin schwamm ich nach Herzenslust und wusste endlich, wie sich die tiefste Lesart des Koran anfühlt – wie ein Sturz in die Unendlichkeit!
    Und das fließende Wasser trug mich vom Leben zum Tod.

ELLA
    BOSTON, 3. JULI 2008
    B oston war noch nie

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