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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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so bunt und lebendig gewesen. Ella fragte sich, ob sie die ganze Zeit der Schönheit dieser Stadt gegenüber blind gewesen war. Aziz blieb fünf Tage in Boston, und jeden Tag fuhr Ella von Northampton dorthin, um ihn zu treffen. In Little Italy aßen sie eine köstliche Kleinigkeit zu Mittag, gingen ins Museum of Fine Arts, unternahmen lange Spaziergänge durch den Boston Common und das Hafenviertel, besuchten das Aquarium und kehrten zwischendurch immer wieder in den belebten kleinen Cafés am Harvard Square ein. Sie führten endlose Gespräche über alles Mögliche – über kuriose Spezialitäten, unterschiedliche Meditationstechniken, die Kunst der Aborigines, Schauerromane, das Beobachten von Vögeln, Gartenarbeit, den Anbau perfekter Tomaten und über Traumdeutung –, wobei sie einander ständig unterbrachen und die Sätze des jeweils anderen vervollständigten. Ella konnte sich nicht erinnern, jemals so viel geredet zu haben.
    Draußen auf der Straße achteten sie zunächst darauf, einander nicht zu berühren, was sich aber als zunehmend schwierig erwies. Bereits die kleinste Annäherung war aufregend, und Ella freute sich schon, wenn sich nur ihre Hände streiften. Eine nie gekannte Kühnheit ließ sie dann in den Restaurants und auf der Straße Aziz’ Hand halten und ihn küssen. Es machte ihr nicht nur nichts aus, gesehen zu werden, sondern sie sehnte sich geradezu danach. Mehrmals gingen sie zusammen ins Hotel und waren immer kurz davor, miteinander zu schlafen, taten es aber nicht.
    Am Morgen des Tages, an dem Aziz nach Amsterdam zurückflog, stand sein Koffer in seinem Zimmer zwischen ihnen, wie um sie boshaft an den bevorstehenden Abschied zu erinnern.
    »Ich muss dir etwas sagen«, sagte Ella. »Ich denke schon so lange darüber nach.«
    Aziz hatte die jähe Veränderung in Ellas Tonfall wahrgenommen und zog eine Augenbraue hoch. Dann erwiderte er bedächtig: »Ich muss dir auch etwas sagen.«
    »Okay, du zuerst.«
    »Nein, du zuerst.«
    Ella senkte, noch immer vor sich hin lächelnd, den Blick und überlegte, was sie sagen und wie sie es sagen sollte. Dann legte sie endlich los. »Bevor du nach Boston gekommen bist, sind David und ich einmal abends ausgegangen und haben lange miteinander geredet. Er hat nach dir gefragt. Offenbar hatte er heimlich unsere E-Mails gelesen. Ich war wahnsinnig wütend auf ihn, aber ich habe die Wahrheit nicht geleugnet. Die Wahrheit über uns, meine ich.«
    Jetzt hob sie besorgt den Blick, um zu sehen, wie Aziz die folgenden Worte aufnehmen würde. »Um es kurz zu machen – ich habe meinem Mann gesagt, dass ich einen anderen liebe.«
    Draußen auf der Straße durchdrangen die Sirenen mehrerer Feuerwehrfahrzeuge den üblichen Großstadtlärm. Ella war kurz abgelenkt, bevor sie weitersprach. »Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber ich habe sehr gründlich darüber nachgedacht. Ich möchte mit dir nach Amsterdam fliegen.«
    Aziz trat ans Fenster und blickte auf das Durcheinander auf der Straße hinunter. Aus einem Gebäude in einiger Entfernung stieg Rauch auf, eine dichte schwarze Wolke schwebte in der Luft. Im Stillen sprach er ein kurzes Gebet für die Menschen, die dort wohnten. Als er zu sprechen begann, klang es, als richtete er sich an die gesamte Stadt.
    »Ich würde dich sehr, sehr gern nach Amsterdam mitnehmen, aber ich kann dir keine Zukunft dort versprechen.«
    »Wie meinst du das?«, fragte Ella nervös.
    Aziz ging zurück, setzte sich neben sie und sagte, gedankenverloren ihre Hand streichelnd: »Als ich deine erste E-Mail bekam, befand ich mich zufälligerweise in einer sehr merkwürdigen Lebensphase.«
    »Du meinst, es gibt jemand anderen in deinem Leben …«
    »Nein, meine Liebste, nein.« Er lächelte matt, dann verlor sich sein Lächeln. »Nichts dergleichen. Ich habe dir einmal etwas über die drei Phasen in meinem Leben geschrieben, erinnerst du dich? Das waren die ersten drei Buchstaben in dem Wort ›Sufi‹. Du hast nie nach der vierten gefragt, und ich habe es einfach nicht über mich gebracht, dir davon zu erzählen. Von meiner Begegnung mit dem Buchstaben i. Willst du es jetzt hören?«
    »Ja«, sagte Ella, obwohl sie alles fürchtete, was diesen Augenblick beschädigen könnte. »Ja, gerne.«
    An diesem Tag im Juli erzählte Aziz Ella ein paar Stunden vor seinem Rückflug nach Amsterdam, wie er 1977 Sufi geworden war und einen neuen Namen angenommen hatte und damit, so seine Hoffnung, auch ein neues Schicksal. Seitdem war er, Fotograf von

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