Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Beruf, Wanderderwisch im Herzen, durch die Welt gereist. Auf sechs Kontinenten hatte er gute Freunde gewonnen, Menschen, die ihn als Teil ihrer Familie betrachteten. Er hatte zwar nicht mehr geheiratet, war aber Pflegevater zweier Waisenkinder in Osteuropa geworden. Die Kette mit dem sonnenförmigen Anhänger, der ihn an Schams-e Tabrizi erinnerte, hatte er kein einziges Mal abgenommen. Sein Leben hatte aus Reisen und Lesen bestanden; er hatte andere in der Tradition der Sufi-Derwische unterrichtet und war überall und in allem den Zeichen Gottes begegnet.
Und dann hatte er, vor zwei Jahren, von seiner Krankheit erfahren.
Angefangen hatte es mit einem Knoten in der Achselhöhle, den er offenbar zu spät bemerkt hatte. Der Knoten erwies sich als malignes Melanom, eine tödliche Form von Hautkrebs. Die Ärzte meinten, es sehe nicht gut aus, sie müssten aber erst noch einige Tests machen, ehe sie eine genauere Diagnose stellen könnten. Eine Woche später teilten sie ihm die schlimme Nachricht mit: Das Melanom hatte in seine inneren Organe gestreut und die Lunge befallen.
Er war damals zweiundfünfzig. Man sagte ihm, er werde höchstens fünfundfünfzig Jahre alt werden.
Ella bewegte die Lippen, ohne ein Wort herauszubringen; ihr Mund fühlte sich knochentrocken an. Die zwei Tränen, die ihre Wangen herunterliefen, wischte sie hastig fort.
Aziz fuhr mit kräftiger, eindringlicher Stimme fort. Damals habe für ihn eine neue und in mancher Hinsicht produktivere Lebensphase begonnen. Es gab noch immer Orte, die er sich ansehen wollte; sie alle zu bereisen war das Allererste, was er tat. In Amsterdam gründete er eine weltweit tätige Sufi-Stiftung. Als Amateur-Ney-Spieler gab er mit Sufi-Musikern Konzerte in Indonesien, Pakistan und Ägypten und nahm mit einer Gruppe jüdischer und moslemischer Mystiker im spanischen Córdoba sogar ein Album auf. Dann kehrte er nach Marokko zurück und suchte das Ordenshaus auf, in dem er zum ersten Mal im Leben echte Sufis getroffen hatte. Meister Samid war schon lange tot; Aziz betete und meditierte an seinem Grab und sann über den Verlauf seines Lebens nach.
»Dann zog ich mich zurück, um an dem Roman zu arbeiten, den ich schon immer hatte schreiben wollen, was ich aber, faul – oder feig –, wie ich war, ständig vor mir hergeschoben hatte«, sagte Aziz augenzwinkernd. »Weißt du, ich wollte dieses Buch schon seit einer Ewigkeit schreiben. Ich gab dem Manuskript den Titel Süße Blasphemie und schickte es ohne große Erwartungen, aber offen für alle Eventualitäten, an eine amerikanische Literaturagentur. Und eine Woche später erhielt ich eine faszinierende E-Mail von einer mysteriösen Frau aus Boston.«
Ella musste lächeln, matt und schmerzlich, es war ein Lächeln, in dem Mitleid und auch ein wenig Anerkennung lagen.
Seit diesem Augenblick, sagte Aziz, sei nichts mehr wie zuvor gewesen. Schon bereit zu sterben, verliebte er sich völlig unerwartet. Plötzlich war er gezwungen, sein ganzes Weltbild, das er für vollständig und unverrückbar gehalten hatte, neu zu entwerfen. Spiritualität, Leben, Familie, Sterblichkeit, Glaube und Liebe – er dachte noch einmal über die Bedeutung all dieser Dinge nach und wollte nicht sterben.
Diesen neuen und letzten Teil seines Lebens nannte er die Begegnung mit dem Buchstaben i in dem Wort »Sufi«. Und bisher sei diese Phase deshalb wesentlich schwieriger als alle früheren, weil sie zu einem Zeitpunkt begonnen habe, als er geglaubt hatte, die meisten, wenn nicht sogar alle inneren Konflikte aufgearbeitet zu haben, zu einem Zeitpunkt, zu dem er sich für seelisch reif und erfüllt gehalten hatte.
»Im Sufismus lernt man, vor dem Tod zu sterben. Ich bin Schritt für Schritt durch all diese Phasen gegangen. Und ausgerechnet in dem Moment, als ich glaubte, alles fein säuberlich geordnet zu haben, kommt wie aus dem Nichts diese Frau. Sie schreibt mir, und ich schreibe zurück. Nach jeder Mail warte ich mit angehaltenem Atem auf ihre Antwort. Plötzlich sind Wörter wertvoller als je zuvor. Die ganze Welt verwandelt sich in eine leere Leinwand, auf die etwas geschrieben werden muss. Und mir wird klar, dass ich diesen Menschen kennenlernen will. Ich brauche mehr Zeit mit ihr. Plötzlich reicht mir mein Leben nicht mehr. Mir ist jetzt bewusst, dass ich den Tod fürchte, und ich bin bereit, gegen den Gott zu rebellieren, den ich verehrte und dem ich mich unterwarf.«
»Aber wir haben doch noch Zeit …«, sagte Ella, als sie ihre
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