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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Stufe seiner süßen Blasphemie.
    »Man darf also nie über die Art und Weise urteilen, in der andere mit Gott sprechen«, fügte Schams hinzu. »Jedem seine eigene Art, jedem sein eigenes Gebet. Gott nimmt uns nicht beim Wort. Er blickt tief in unsere Herzen. Wichtig sind nicht die Zeremonien und Rituale, wichtig ist nur, ob unser Herz rein genug ist oder nicht.«
    Ich warf einen Blick zum Richter hinüber. Hinter der Maske der vollkommenen Selbstgewissheit und Gelassenheit lauerte unübersehbar Ärger. Zugleich hatte der scharfsinnige Mann erkannt, wie heikel die Lage war. Ging er auf Schams’ Geschichte ein, musste er auch den nächsten Schritt tun und den Derwisch wegen dessen Anmaßung bestrafen. Dann würde es ernst werden, und alle würden erfahren, dass es ein einfacher Derwisch gewagt hatte, sich mit dem Hohen Richter anzulegen. Er hielt es daher für besser, so zu tun, als gäbe es nichts, woran er Anstoß nehmen müsste, und die Sache auf sich beruhen zu lassen.
    Draußen färbte die untergehende Sonne den Himmel in vielfältige, da und dort von dunkelgrauen Wolken durchsetzte Rottöne. Nach einer Weile erhob sich der Richter mit den Worten, er habe noch wichtige Dinge zu erledigen. Nachdem er mir kurz zugenickt und Schams-e Tabrizi einen kühlen Blick zugeworfen hatte, verließ er den Raum. Schweigend folgten ihm seine Männer.
    »Ich fürchte, der Richter ist dir nicht sehr gewogen«, sagte ich, als alle fort waren.
    Schams-e Tabrizi strich sich lächelnd das Haar aus dem Gesicht. »Ach, das macht nichts. Ich bin daran gewöhnt, dass mich die Leute nicht besonders mögen.«
    Da packte mich die Neugier. Ich war lange genug Meister dieser Sufi-Bruderschaft, um zu wissen, dass ein solcher Besuch nicht alle Tage kam.
    »Sag mir – aus welchem Grund bist du in Bagdad, Derwisch?«, fragte ich.
    Ich konnte die Antwort kaum erwarten, und im selben Moment emfand ich eine sonderbare Angst.

ELLA
    NORTHAMPTON, 20. MAI 2008
    B auchtänzerinnen und Derwische wirbelten durch Ellas Träume in der Nacht, in der ihr Mann nicht nach Hause kam. Sie hatte den Kopf auf das Manuskript sinken lassen und sah im Schlaf, wie sich raubeinige Krieger in einer Straßenschenke an ganzen Bergen von köstlichen Kuchen und Süßspeisen labten.
    Und dann sah sie sich selbst. Wie sie in einem belebten Basar in der Zitadelle einer fremdländischen Stadt jemanden suchte. Die Menschen um sie herum bewegten sich so langsam, als tanzten sie zu einer Melodie, die sie nicht hören konnte. Sie hielt einen dicken Mann mit einem lang herabhängenden Schnurrbart an, um ihn etwas zu fragen, aber dann fiel ihr die Frage nicht mehr ein. Der Mann warf ihr einen entgeisterten Blick zu und humpelte weiter. Sie sprach mehrere Verkäufer, später Kunden an, aber niemand reagierte auf sie. Zuerst dachte sie, es liege daran, dass sie ihre Sprache nicht sprach. Doch dann führte sie die Hand zum Mund und erkannte entsetzt, dass man ihr die Zunge abgeschnitten hatte. Während Panik in ihr aufstieg, hielt sie Ausschau nach einem Spiegel, aber es gab keine Spiegel in diesem Basar. Sie brach in Tränen aus und wurde von einem unangenehmen Geräusch geweckt, ohne herausgefunden zu haben, ob sie noch eine Zunge besaß.
    Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass Spirit wie verrückt an der Hintertür kratzte. Wahrscheinlich war irgendein Tier auf die Veranda gelangt, und der Hund war ganz aus dem Häuschen. Vor allem Stinktiere machten ihn schrecklich nervös. Sie erinnerte sich nur zu gut an seine unschöne Begegnung mit einem dieser Zeitgenossen im letzten Winter. Erst nach Wochen war es Ella gelungen, Spirit von dem üblen Geruch zu befreien, und selbst nachdem sie ihn mehrmals in Tomatensaft gebadet hatte, war der an brennendes Gummi erinnernde Gestank noch immer nicht ganz verschwunden.
    Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war Viertel vor drei am Morgen. David war immer noch nicht da und würde vielleicht niemals wiederkommen. Jeannette hatte nicht zurückgerufen, und Ella in ihrer düsteren Stimmung bezweifelte, jemals einen Rückruf von ihr zu erhalten. Panisch vor Angst, ihr Mann und ihre Tochter könnten sie verlassen haben, öffnete sie den Kühlschrank und stöberte eine Weile darin herum. Die Lust auf ein paar Löffel Kirsch-Vanille-Eis kämpfte mit der Furcht, ein paar Pfund zuzulegen. Um Selbstbeherrschung bemüht trat sie einen Schritt zurück und schlug die Kühlschranktür, ein bisschen heftiger, als nötig gewesen wäre, zu.
    Sie entkorkte

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