Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
seine Aufrichtigkeit manchmal an Schroffheit. Ich lehrte meine Derwische, niemals die Fehler anderer zu sehen, und wenn doch, sie schweigend zu verzeihen. Schams dagegen ließ kein Vergehen unbeachtet. Jedes Unrecht, das er bemerkte, sprach er sofort an, ohne lange herumzulavieren. Seine Ehrlichkeit war manchmal verletzend, aber er liebte es, andere zu reizen und so zu erfahren, was in Augenblicken der Wut in ihnen vor sich ging.
Ihn zum Erfüllen einfacher Pflichten anzuhalten erwies sich als schwierig. Für so etwas hatte er kaum Geduld, und sobald er mit einer Sache umgehen konnte, verlor er das Interesse daran. Bei alltäglichen Arbeiten verzweifelte er wie ein Tiger im Käfig. Wenn ihn ein Gespräch langweilte oder jemand eine dumme Bemerkung machte, stand er auf und ging, ohne sich mit Artigkeiten aufzuhalten. Werte wie Sicherheit, Bequemlichkeit und Glück, die andere hoch schätzten, bedeuteten ihm kaum etwas. Und sein Misstrauen gegen Worte war so stark, dass er oft tagelang nicht sprach. Auch das war eine seiner Regeln: »Not, Unbill und Leid in der Welt haben ihre Ursache in sprachlichen Fehlern und einfachen Missverständnissen. Nimm niemals ein Wort beim Wort. Trittst du ein in die Gefilde der Liebe, wird die Sprache, wie wir sie kennen, hinfällig. Was nicht in Worte gebracht werden kann, lässt sich nur durch Schweigen erfassen.«
Im Lauf der Zeit machte ich mir immer mehr Sorgen um ihn. Denn ich spürte tief im Inneren, dass einer, der so heftig brennt, auch dazu neigte, sich in Gefahr zu begeben.
Letztlich liegt unser Schicksal in Gottes Hand, nur Er weiß, wann und wie ein jeder von uns die Welt verlassen wird. Dennoch beschloss ich, Schams, so gut ich konnte, zu mäßigen und an ein ruhigeres Leben zu gewöhnen. Und eine Zeit lang glaubte ich, es würde mir gelingen. Doch dann kam der Winter, und mit dem Winter kam der Bote mit einem Brief aus weiter Ferne.
Dieser Brief veränderte alles.
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DER BRIEF
VON KAYSERI NACH BAGDAD, FEBRUAR 1243
Bismillahirrahmanirrahim,
Mein lieber Bruder Baba Zaman,
mögen Friede und der Segen Gottes auf dir sein.
Es ist lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben, und ich hoffe, dieses Schreiben trifft dich in guter Stimmung an. Ich habe so viel Wundervolles über das Ordenshaus gehört, das du am Stadtrand von Bagdad gebaut hast und in dem du Derwische die Weisheit und Liebe Gottes lehrst. In diesem vertraulichen Brief möchte ich dir etwas mitteilen, das mir auf dem Herzen liegt. Erlaube mir, die Sache von Anfang an zu erzählen.
Der verstorbene Sultan Kai Kobad war, wie du weißt, ein bemerkenswerter Mann, der sich in schwierigen Zeiten als ein großer Führer erwies. Er hatte den Traum, eine Stadt zu errichten, in der Dichter, Künstler und Philosophen friedlich leben und arbeiten könnten. Viele bezeichneten diesen Traum als unmöglich angesichts des Chaos und der Feindseligkeit in der Welt, vor allem aber angesichts der von beiden Seiten her angreifenden Kreuzritter und Mongolen. Alles, alles haben wir erlebt: Christen, die Moslems töten, Christen, die Christen töten, Moslems, die Christen töten, Moslems, die Moslems töten. Verfeindete Religionen, Sekten, Volksstämme, ja selbst Brüder. Doch Kai Kobad war ein willensstarker Anführer. Er beschloss, seinen großen Traum in Konya zu verwirklichen, der ersten Stadt, die nach der Sintflut gegründet worden war.
Nun lebt aber in Konya ein Gelehrter, von dem du gehört haben magst oder auch nicht. Er heißt Maulana Dschalal ad-Din, wird jedoch oft auch Rumi genannt. Ich hatte nicht nur das Vergnügen, ihn kennenzulernen, sondern auch mit ihm zu studieren, zuerst als sein Lehrer, dann, nach dem Tod seines Vaters, als sein Mentor und Jahre später als sein Schüler. Ja, mein Freund, ich wurde zum Schüler meines Schülers. Er war so begabt, so gescheit, dass ich ihm eines Tages nichts mehr beibringen konnte und stattdessen von ihm zu lernen begann. Auch sein Vater war ein hervorragender Gelehrter. Doch Rumi besitzt eine Eigenschaft, die nur sehr wenige Gelehrte aufweisen: Er vermag die Hülle der Religion zu durchdringen und aus dem Innersten ihren universellen und ewigen Kern hervorzuholen.
Du sollst wissen, dass nicht nur ich so denke. Als Rumi in jungen Jahren dem großen Mystiker, Drogisten und Parfümeur Fariduddin Attar begegnete, sagte Attar über ihn: »Dieser Knabe wird im Herzen der Liebe ein Tor öffnen und eine Flamme in die Herzen all derer werfen,
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