Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
verloren. Nicht einmal Jeannettes Abwesenheit konnte das Bild trüben. Während sie aßen, erzählten Orly und Avi munter von den jüngsten Ereignissen in der Schule. Ella war ihnen ausnahmsweise einmal dankbar für ihre laute Geschwätzigkeit, denn sie überdeckte das Schweigen, das andernfalls schwer auf ihr und ihrem Mann gelastet hätte.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie David seine Gabel in ein Stück Blumenkohl stach und bedächtig kaute. Ihr Blick wanderte zu seinen schmalen, blassen Lippen und den perlweißen Zähnen – zu dem Mund, den sie so gut kannte und den sie schon so oft geküsst hatte. Sie stellte sich vor, wie er eine andere Frau küsste. Aus irgendeinem Grund war die Rivalin, die vor ihrem geistigen Auge auftauchte, nicht Davids junge Arzthelferin, sondern eine vollbusige Version von Susan Sarandon. Athletisch und selbstbewusst brachte sie ihre Brüste in einem engen Kleid zur Geltung, zu dem sie hochhackige, kniehohe rote Lederstiefel trug. Das dicke Make-up ließ ihr Gesicht glänzend, ja fast schillernd wirken. Ella stellte sich vor, wie David diese Frau küsste, hastig, hungrig, so ganz anders, als er beim Essen im Kreis der Familie den Blumenkohl kaute.
In diesem Moment, in dem sie ihr Kochkunst – einfach gemacht -Essen aß und sich die Frau vorstellte, mit der ihr Mann eine Affäre hatte, überkam sie schlagartig eine Erkenntnis. Mit erschreckender Ruhe und Klarheit wurde ihr bewusst, dass sie trotz ihrer Unerfahrenheit und Furchtsamkeit all das eines Tages hinter sich lassen würde: ihre Küche, ihren Hund, ihre Kinder, ihre Nachbarn, ihren Mann, ihre Kochbücher und die Rezepte für selbst gebackenes Brot … Sie würde einfach hinausgehen in die Welt, in der ständig gefährliche Dinge passierten.
DER MEISTER
BAGDAD, 26. JANUAR 1243
B ei uns in der Sufi-Bruderschaft zu leben erfordert weit mehr Geduld, als Schams-e Tabrizi besitzt. Und doch ist er auch jetzt, nach neun Monaten, immer noch hier.
Zu Beginn dachte ich, er würde jeden Augenblick seine Sachen packen und gehen, so offensichtlich war seine Abneigung gegen ein strengen Regeln unterworfenes Leben. Ich sah ihm an, dass es ihn zu Tode langweilte, immer zur gleichen Zeit einschlafen und aufwachen zu müssen, regelmäßige Mahlzeiten zu sich zu nehmen und denselben Tagesablauf zu befolgen wie alle anderen. Er war es gewohnt, wild und frei wie ein Vogel dahinzufliegen. Ich glaube, dass er schon einige Male nahe daran war wegzulaufen. Aber so groß sein Bedürfnis nach Abgeschiedenheit auch ist, es wird übertroffen von seiner Hingabe an die Suche nach seinem Gefährten. Schams glaubte fest daran, dass ich ihm irgendwann die erbetene Auskunft geben und ihm sagen würde, wohin er gehen und wen er finden müsse. Diese Zuversicht half ihm zu bleiben.
In diesen neun Monaten sah ich ihn mir genau an und fragte mich immer wieder, ob die Zeit für ihn möglicherweise anders verging, schneller und auf einprägsamere Art. Wofür andere Derwische Monate oder sogar Jahre brauchten, das lernte er in wenigen Wochen oder Tagen. Er war ungemein neugierig auf alles Ungewöhnliche, ihm Unbekannte und beobachtete eingehend die Natur. Ich traf ihn oft im Garten an, wenn er gerade die Symmetrie eines Spinnennetzes oder die funkelnden Tautropfen auf einer nachtblühenden Blume bewunderte. Insekten, Pflanzen und Tiere schienen ihn mehr zu interessieren und zu inspirieren als Bücher und Manuskripte. Aber gerade als ich zu dem Schluss gekommen war, dass er nicht viel aufs Lesen gab, sah ich ihn über ein uraltes Buch gebeugt. Dann wieder konnte es sein, dass er wochenlang gar nichts las oder studierte.
Als ich ihn danach fragte, sagte er, man solle den Geist zwar befriedigen, dürfe ihn aber auf keinen Fall verwöhnen. Das war eine seiner Regeln. »Der Geist und die Liebe sind aus unterschiedlichem Stoff gemacht. Der Geist knüpft die Menschen zu Knoten und setzt nichts aufs Spiel, die Liebe dagegen entwirrt alles und setzt alles aufs Spiel. Der Geist ist immer vorsichtig und sagt: ›Hüte dich vor zu viel Ekstase.‹ Die Liebe aber sagt: ›Was soll’s – wag den Sprung!‹ Der Geist scheitert nicht so schnell, die Liebe jedoch liegt leicht in Trümmern. Aber Schätze verstecken sich in Ruinen. Ein gebrochenes Herz birgt Schätze.«
Als ich ihn besser kennengelernt hatte, bewunderte ich seinen Scharfsinn und Mut, befürchtete allerdings, dass seine unübertreffliche Klugheit und Eigenwilligkeit auch eine Kehrseite hatten. So grenzte
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