Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
Vom Netzwerk:
wie wir tragen können. Ich sehe deiner Antwort freudig entgegen und vertraue darauf, dass du, wie immer sie ausfällt, die rechten Schritte auf dem rechten Weg gehen wirst.
    Möge das Licht des Glaubens dich und deine Derwische stets bescheinen.
    Meister Seyyid Burhaneddin

SCHAMS
    BAGDAD, 18. DEZEMBER 1243
    B ald war der Bote, den sie in der Ferne, jenseits der herabhängenden Eiszapfen und schneebedeckten Straßen erblickt hatten, eingetroffen. Er komme aus Kayseri, sagte er und sorgte für Aufregung unter den Derwischen, denn um diese Zeit des Jahres waren Besucher seltener als süße Sommertrauben. Eine Botschaft, die wichtig genug war, um sie durch Schneestürme zu tragen, konnte nur heißen, dass etwas Schreckliches geschehen war oder etwas Bedeutsames geschehen würde.
    Die Ankunft des Boten heizte die Gerüchteküche in der Derwisch-Bruderschaft an. Alle waren neugierig auf den Inhalt des Briefs, den er dem Meister überreicht hatte. Der aber hüllte sich in einen Mantel aus Schweigen und unterließ selbst die kleinste Andeutung. Beharrlich grübelnd trug er tagelang, von den Derwischen eifrig bewacht, die Miene eines Menschen zur Schau, der mit seinem Gewissen ringt und dem es schwerfällt, die richtige Entscheidung zu treffen.
    In dieser Zeit war es nicht bloß Neugier, die mich dazu brachte, Baba Zaman genau zu beobachten. Tief im Herzen spürte ich, dass der Brief etwas mit mir zu tun hatte, obwohl ich nicht wusste, in welcher Hinsicht. Ich verbrachte viele Abende im Gebetsraum und sagte auf Erleuchtung hoffend die neunundneunzig Namen Gottes auf. Ein Name stach jedes Mal hervor: al-Jabbar – Der, in dessen Reich nichts geschieht, was Er nicht will.
    In den Tagen darauf, als alle in der Bruderschaft wilde Mutmaßungen anstellten, war ich viel allein im Garten und betrachtete Mutter Natur, die unter einer schweren Schneedecke lag. Schließlich läutete eines Tages die Kupferglocke in der Küche und rief uns zu einer dringenden Besprechung zusammen. Als ich den Hauptraum der Khanqah betrat, saßen dort schon alle, die Novizen ebenso wie die alten Derwische, in einem großen Kreis. Und in der Mitte des Kreises saß der Meister mit zusammengepressten Lippen und verschleiertem Blick.
    Er räusperte sich und sagte: »Bismillah, ihr fragt euch sicherlich, warum ihr heute hierhergerufen wurdet. Es geht um den Brief, den ich erhalten habe. Woher er kommt, ist nicht wichtig. Es genügt, euch zu sagen, dass er meine Aufmerksamkeit auf eine Angelegenheit von tiefgreifender Bedeutung gelenkt hat.«
    Baba Zaman schwieg einen Moment und blickte aus dem Fenster. Er wirkte so müde, schmal und blass, als wäre er in den zurückliegenden Tagen beträchtlich gealtert. Doch als er erneut das Wort ergriff, schwang eine unerwartete Entschlossenheit in seiner Stimme mit.
    »In einer Stadt nicht weit von hier lebt ein großer Gelehrter. Er kann gut mit Worten umgehen, aber nicht so gut mit Metaphern, denn er ist kein Dichter. Er wird von Tausenden geliebt, geachtet und bewundert, aber er selbst ist kein Liebender. Aus Gründen, die wir, ihr und ich, nicht annähernd erkennen können, wird einer aus dieser Bruderschaft ihn kennenlernen und sein Gefährte sein müssen.«
    Mein Herz krampfte sich zusammen. Ich atmete ganz, ganz langsam aus. Unwillkürlich schoss mir eine der Regeln durch den Kopf: Einsamkeit und Alleinsein sind zweierlei. Die Einsamkeit verleitet leicht zu dem Glauben, auf dem richtigen Weg zu sein. Das Alleinsein ist besser für uns, denn es bedeutet, allein zu sein, ohne sich einsam zu fühlen. Aber das Beste ist letztlich, einen Menschen zu finden, den Menschen, der zu unserem Spiegel wird. Bedenke: Nur im Herzen eines anderen kannst du dich und die Gegenwart Gottes in dir wirklich sehen.
    Der Meister fuhr fort: »Ich bin hier, um zu fragen, ob sich einer von euch freiwillig für diese spirituelle Reise meldet. Ich hätte auch einen bestimmen können, aber diese Aufgabe lässt sich nicht als eine Pflicht erfüllen, sondern nur aus Liebe und im Namen der Liebe.«
    Ein junger Derwisch bat darum, sprechen zu dürfen. »Wer ist dieser Gelehrte, Meister?«
    »Seinen Namen kann ich nur demjenigen offenbaren, der bereit ist zu gehen.«
    Sofort hoben mehrere Derwische aufgeregt und ungeduldig die Hand. Insgesamt waren es neun. Ich schloss mich ihnen an und wurde der zehnte. Baba Zaman fuchtelte mit der Hand durch die Luft und gab uns zu verstehen, dass er noch nicht fertig war. »Es gibt noch etwas, was ihr wissen

Weitere Kostenlose Bücher