Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
die die Mystik lieben.« Und als der große Philosoph, Schriftsteller und Mystiker Ibn Arabi eines Tages den jungen Rumi hinter dessen Vater dahinschreiten sah, rief er: »Gott sei gepriesen, ein Ozean folgt einem See!«
Schon mit vierundzwanzig Jahren wurde Rumi ein geistiger Führer. Heute, dreizehn Jahre später, betrachten ihn die Bewohner von Konya als ihr Vorbild, und jeden Freitag strömen Menschen von überall her in die Stadt, um ihn predigen zu hören. Er tat sich im Rechtswesen, in der Philosophie, der Theologie, der Astronomie und Geschichte, der Chemie und der Algebra hervor und hat, so heißt es, bereits zehntausend Schüler, die an seinen Lippen hängen und ihn als einen großen Aufklärer betrachten, der in der Geschichte des Islam, wenn nicht sogar der Weltgeschichte eine wichtige Wandlung zum Guten herbeiführen wird.
Für mich aber war Rumi stets wie ein Sohn. Ich versprach seinem Vater vor dessen Tod, immer ein Auge auf ihn zu haben. Und jetzt, da ich ein alter Mann bin, der seinen letzten Tagen entgegengeht, will ich dafür sorgen, dass er sich in guter Gesellschaft befindet.
Denn obwohl er so außergewöhnlich und erfolgreich ist, hat mir Rumi schon mehrmals anvertraut, dass in ihm Unzufriedenheit herrscht. Es fehlt etwas in seinem Leben, und diese Leere kann weder seine Familie noch seine Schülerschaft füllen. Einmal sagte ich ihm, dass er zwar keineswegs roh, aber auch nicht gegart sei. Obwohl seine Tasse bis zum Rand gefüllt sei, müsse das Tor zu seiner Seele erst aufgestoßen werden, damit die Wasser der Liebe hinein- und herausfließen könnten. Als er mich fragte, wie dies zu bewerkstelligen sei, sagte ich ihm, er brauche einen Freund, einen Weggefährten, und brachte ihm die Koranworte in Erinnerung, die da lauten: »Gläubige sind einander ein Spiegel.«
Wäre das Thema nicht wieder aufgekommen, hätte ich es vielleicht ganz vergessen, aber am Tag meiner Abreise aus Konya stattete mir Rumi einen Besuch ab und bat mich um meine Meinung über einen immer wiederkehrenden Traum, der ihn quälte. In seinem Traum, so erzählte er mir, war er in einer großen, quirligen Stadt in einem fernen Land auf der Suche nach einem Menschen. Arabische Worte. Herrliche Sonnenuntergänge. Maulbeerbäume und Seidenraupen, die in verschlossenen Kokons geduldig auf den Moment ihrer Ankunft warteten. Dann sah er sich selbst im Hof seines Hauses mit einer Laterne am Brunnen sitzen und weinen.
Zuerst begriff ich nicht, was diese Traumfragmente bedeuten sollten. Nichts kam mir bekannt vor. Doch dann erhielt ich eines Tages einen Seidenschal als Geschenk, und da kam mir die Antwort – das Rätsel war gelöst. Mir fiel ein, wie sehr du Seide und Seidenraupen liebst, und ich entsann mich der wunderbaren Dinge, die ich über deine Tariqa gehört hatte. Da wurde mir bewusst, dass der Ort, den Rumi in seinen Träumen sah, kein anderer ist als das Haus deiner Derwisch-Bruderschaft. Kurz gesagt, lieber Bruder, lässt mich die Frage nicht los, ob Rumis Gefährte möglicherweise unter deinem Dach lebt. Aus diesem Grunde schreibe ich diesen Brief.
Ich weiß nicht, ob sich ein solcher Mensch in deinem Haus aufhält. Falls aber doch, so überlasse ich es dir, ihn von dem Schicksal zu unterrichten, das ihn erwartet. Wenn wir, du und ich, auch nur ein klein wenig dazu beitragen können, dass zwei Flüsse ineinanderfließen und als ein Wasserlauf in den Ozean der Göttlichen Liebe strömen, wenn wir zwei guten Freunden Gottes helfen können, einander zu begegnen, dann wäre das ein Segen.
Eines aber musst du bedenken. Rumi ist ein einflussreicher, von vielen verehrter und geschätzter Mann, was indes nicht heißt, dass er keine Kritiker hat. Die gibt es sehr wohl. Zudem könnte ein solcher Zusammenfluss Unmut und Gegnerschaft hervorrufen und zu ungeahnten Rivalitäten führen. Auch könnte die Zuneigung seines Gefährten für Kummer und Betrübnis in Rumis Familie und seinem engsten Kreis sorgen. Ein Mensch, den ein von so vielen Bewunderter freimütig liebt, zieht unweigerlich Neid, ja sogar Hass auf sich.
All dies könnte Rumis Gefährten in unvorhersehbare Gefahr bringen. Mit anderen Worten: Der Mann, den du nach Konya schickst, kehrt vielleicht niemals wieder. Deshalb bitte ich dich, die Sache gründlich zu überdenken, ehe du entscheidest, ob du Rumis Gefährten dieses Schreiben offenbarst.
Verzeih mir, dass ich dich in diese schwierige Lage bringe, aber wie wir beide wissen, bürdet uns Gott nur so viel auf,
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