Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
bedeutet, genug Weitsicht zu besitzen, um auf das Ergebnis am Ende zu vertrauen. Was ist Geduld? Geduld ist, den Dorn zu betrachten und die Rose zu sehen, die Nacht zu betrachten und das Morgengrauen zu sehen. Ungeduld ist die Kurzsichtigkeit, die verhindert, das Ergebnis zu sehen. Wer Gott liebt, verliert nie die Geduld, denn er weiß, dass die Mondsichel Zeit braucht, um zum Vollmond zu werden.
Als im Herbst die Kupferglocke zum dritten Mal läutete, trat ich ruhig und voller Zuversicht in den Raum, ich vertraute darauf, dass sich nun endlich alles fügen würde. Der Meister wirkte blasser und schwächer denn je, fast als hätte er nicht mehr die geringste Kraft. Doch als ich wieder die Hand hob, wandte er weder den Blick ab noch ließ er das Thema fallen, sondern nickte mir entschlossen zu.
»Gut, Schams, ganz zweifellos bist du es, der sich auf diese Reise begeben sollte. Morgen früh brichst du auf, inschallah.«
Ich küsste seine Hand. Endlich würde ich meinem Gefährten begegnen.
Baba Zaman lächelte mich herzlich und nachdenklich an wie ein Vater seinen einzigen Sohn, bevor er ihn aufs Schlachtfeld schickt. Dann nahm er einen versiegelten Brief aus der Tasche seines langen khakifarbenen Gewands, gab ihn mir und verließ den Raum. Alle anderen folgten ihm. Als ich allein war, brach ich das Wachssiegel. Der Umschlag enthielt zwei in schöner Handschrift verfasste Mitteilungen: den Namen der Stadt und den Namen des Gelehrten. Ich sollte nach Konya gehen und einen gewissen Rumi aufsuchen.
Einen Augenblick lang stockte mir das Herz. Diesen Namen hatte ich noch nie gehört. Er sei ein berühmter Gelehrter, hatte es geheißen, aber für mich war er ein einziges Rätsel. Der Reihe nach sprach ich die Buchstaben seines Namens aus: das mächtige, klare R, das samtige U, das kühne, selbstsichere M und das geheimnisvolle I, das noch entschlüsselt werden musste.
Dann verband ich die Buchstaben und wiederholte seinen Namen immer wieder, bis mir das Wort süß wie ein Bonbon auf der Zunge schmolz und so vertraut wurde wie »Wasser«, »Brot« und »Milch«.
ELLA
NORTHAMPTON, 22. MAI 2008
B enommen lag Ella unter ihrer weißen Bettdecke und versuchte, trotz der Halsschmerzen zu schlucken. Dass sie mehrere Nächte hintereinander lang aufgeblieben war und mehr als gewöhnlich getrunken hatte, forderte jetzt seinen Tribut. Trotzdem ging sie hinunter, machte Frühstück, setzte sich zu ihrem Mann und den Zwillingen und versuchte, so gut es ging, Interesse für das unablässige Geplapper über die coolsten Autos in der Schule zu heucheln, obwohl sie sich am liebsten wieder schlafen gelegt hätte.
Plötzlich wandte Orly sich an ihre Mutter und sagte in vorwurfsvollem Ton: »Avi hat gesagt, dass unsere Schwester nicht mehr zurückkommt. Stimmt das, Mom?« Der Argwohn in ihrer Stimme war kaum zu überhören.
»Natürlich nicht. Du weißt ja, dass eure Schwester und ich einen Streit hatten, aber wir lieben uns«, entgegnete Ella.
»Hast du echt Scott angerufen und ihm gesagt, er soll Jeannette verlassen?«, fragte Avi grinsend. Das Thema gefiel ihm offenbar ausgesprochen gut.
Ella warf ihrem Mann mit weit aufgerissenen Augen einen Blick zu, aber David zog nur die Brauen hoch und signalisierte mit erhobenen Händen, dass die beiden das alles nicht von ihm erfahren hatten.
Mit routinierter Ungezwungenheit verlieh Ella ihrer Stimme den autoritären Ton, in dem sie sonst den Kindern Anweisungen erteilte. »Das stimmt so nicht. Ich habe zwar mit Scott telefoniert, aber ich habe ihm nicht gesagt, dass er eure Schwester verlassen soll. Ich habe nur gesagt, sie sollten nicht überstürzt heiraten.«
»Ich heirate nie«, verkündete Orly im Brustton der Überzeugung.
»Als ob irgendeiner dich als Frau haben will!«, blaffte Avi.
Während sich die Zwillinge gegenseitig aufzogen, spürte Ella, dass sich ihr Mund, warum auch immer, zu einem nervösen Lächeln verzerrte. Sie versuchte es zu unterdrücken, doch auch als sie ihren Mann und die beiden Kinder an die Tür brachte und ihnen einen schönen Tag wünschte, blieb das Lächeln wie ins Gesicht gemeißelt.
Es verschwand erst, als sie sich wieder an den Tisch setzte, aber auch nur, weil sie es sich erlaubte, eine Schnute zu ziehen. Die Küche sah aus, als wäre eine Horde Ratten darüber hergefallen. Auf der Küchentheke drängten sich Teller mit halb aufgegessenem Rührei, Schüsseln mit Müsliresten und schmutzige Tassen. Spirit wollte unbedingt nach draußen und lief
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