Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
unentwegt auf und ab, aber selbst nach zwei Tassen Kaffee und einem Glas Multivitaminsaft schaffte es Ella gerade mal, ein paar Minuten lang mit ihm durch den Garten zu spazieren.
Als sie wieder ins Haus trat, sah sie das rote Lämpchen am Anrufbeantworter blinken. Sie drückte den Knopf und hörte zu ihrer großen Freude Jeannettes schöne Stimme.
»Bist du da, Mom? Na, offenbar nicht, sonst hättest du abgehoben.« Sie kicherte. »Also, ich war so wütend auf dich, dass ich dich echt nie mehr wiedersehen wollte. Aber inzwischen sehe ich die Sache ganz cool. Ich meine, was du da gemacht hast, war natürlich falsch, das ist klar. Du hättest Scott nie anrufen dürfen. Aber ich verstehe jetzt, warum du es getan hast. Weißt du, du brauchst mich nicht ständig zu beschützen. Ich bin nicht mehr das Frühchen, das in den Brutkasten musste. Hör auf mit dieser Überfürsorglichkeit! Lass mich einfach machen, ja?«
Ellas Augen wurden feucht. Einen Moment lang sah sie Jeannette als Baby vor sich – das hochrote, traurige Gesicht, die winzigen Finger runzlig und fast durchscheinend, die Lunge an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Jeannette war so schlecht auf die Welt vorbereitet gewesen. Zahllose Nächte ohne Schlaf hatte Ella damit zugebracht, ihren Atemzügen zu lauschen, nur um sicher zu sein, dass ihre Tochter lebte und weiterleben würde.
»Ach, noch was«, fügte Jeannette hinzu, als fiele es ihr erst jetzt ein. »Ich liebe dich.«
Bei diesen Worten atmete Ella tief aus. Sie dachte an die E-Mail von Aziz. Der Wunschbaum hatte ihm seinen Wunsch erfüllt. Zumindest den ersten Teil. Jeannette hatte mit dem Anruf ihren Teil getan. Jetzt war es an Ella, den Rest zu verwirklichen. Sie wählte die Handynummer ihrer Tochter und erreichte Jeannette auf dem Weg zur College-Bibliothek.
»Ich habe deine Nachricht abgehört, mein Herzchen. Jeannette – es tut mir so leid. Ich möchte dich um Verzeihung bitten.«
Jeannette antwortete mit einem kurzen, aber vielsagenden Schweigen. »Ist schon okay, Mom.«
»Nein, es ist nicht okay. Ich hätte deine Gefühle mehr respektieren müssen.«
»Vergessen wir das Ganze einfach, ja?«, sagte Jeannette, als wäre sie die Mutter und Ella die rebellische Tochter.
»Gut, meine Kleine.«
Plötzlich senkte Jeannette die Stimme und murmelte so leise, als fürchte sie sich vor dem, was sie gleich sagen würde: »Ich habe mir ziemliche Sorgen gemacht, wegen dem, was du da neulich gesagt hast. Ist es denn wirklich so? Bist du wirklich unglücklich?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Ella ein bisschen zu schnell. »Ich habe drei wunderbare Kinder großgezogen – wie sollte ich da unglücklich sein?«
Doch Jeannette wirkte nicht überzeugt. »Mit Daddy, meinte ich.«
Ella fiel nichts anderes als die Wahrheit ein. »Dein Vater und ich sind schon lange miteinander verheiratet. Es ist schwer, nach so vielen Jahren noch verliebt zu sein.«
»Ich verstehe schon«, sagte Jeannette, und Ella hatte merkwürdigerweise das Gefühl, dass sie es wirklich verstand.
Nachdem Ella aufgelegt hatte, dachte sie ein paar Minuten lang über die Liebe nach. Sie machte es sich in ihrem Schaukelstuhl bequem und überlegte, wie sie, die so verletzt und zynisch war, je wieder Liebe erleben sollte. Die Liebe war für diejenigen gemacht, die in dieser sich so rasend schnell drehenden Welt einen tieferen Sinn suchten. Aber was war mit denen, die diese Suche längst aufgegeben hatten?
Bevor der Tag zu Ende ging, schrieb sie eine Mail an Aziz.
Lieber Aziz (falls Sie gestatten),
danke für Ihre freundliche, herzerwärmende Antwort, die mir durch eine Familienkrise half. Meine Tochter und ich haben es geschafft, das grauenhafte Missverständnis, wie Sie es so höflich nannten, auszuräumen.
Mit einer Sache lagen Sie völlig richtig. Ich schwanke ständig zwischen zwei Extremen, nämlich Aggressivität und Passivität. Entweder mische ich mich zu sehr in das Leben von Menschen ein, die ich liebe, oder aber ich fühle mich angesichts ihrer Handlungen hilflos.
Was die von Ihnen erwähnte Fügsamkeit betrifft, so muss ich sagen, dass ich eine solche friedfertige Hinnahme der Dinge nicht kenne. Ich glaube ehrlich gesagt, dass ich nicht das Zeug zum Sufi habe. Aber immerhin kann ich mit Folgendem aufwarten: Erstaunlicherweise haben sich, als ich das Wollen und Einmischen bleiben ließ, die Probleme zwischen Jeannette und mir genau so gelöst, wie ich es mir gewünscht hatte. Ich schulde Ihnen ein großes
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