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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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    Möge Gott dein Genüge sein!
    Baba Zaman

DER NOVIZE
    BAGDAD, 29. SEPTEMBER 1243
    B eneidenswert ist es nicht, das Leben als Derwisch. Alle haben mich davor gewarnt. Aber dass ich die Hölle durchleben muss, um einer zu werden, das haben sie mir verschwiegen. Seit ich hier bin, schufte ich wie ein Pferd. Meistens arbeite ich so schwer, dass ich, wenn ich endlich auf meiner Schlafmatte liege, nicht einschlafen kann, weil meine Muskeln so wehtun und meine Füße so brennen. Ich weiß gar nicht, ob irgendwer bemerkt, wie schrecklich ich behandelt werde. Jedenfalls zeigt keiner auch nur einen Hauch Mitgefühl. Und je mehr ich mich anstrenge, umso schlimmer wird es. Die wissen ja nicht mal, wie ich heiße. »Der neue Novize« nennen sie mich, und hinter meinem Rücken flüstern sie: »Dieser rothaarige Tölpel.«
    Das Allerschlimmste ist die Plackerei in der Küche unter der Aufsicht des Kochs. Wo bei anderen das Herz sitzt, hat dieser Mann einen Stein. Er wäre besser ein blutrünstiger Befehlshaber im Mongolenheer geworden als Koch in einer Derwisch-Bruderschaft. Ich kann mich nicht erinnern, jemals gehört zu haben, dass er irgendwem etwas Nettes sagte. Ich glaube, er ist gar nicht imstande zu lächeln.
    Einmal fragte ich einen älteren Derwisch, ob alle Novizen ihre Probezeit beim Koch in der Küche ableisten müssten. Er lächelte geheimnisvoll und antwortete: »Nicht alle, nur einige wenige.«
    Und warum ausgerechnet ich? Warum lässt mich der Meister mehr als die anderen leiden? Weil meine Nafs größer ist als ihre und es für ihre Erziehung daher mehr Strenge bedarf?
    Jeden Tag stehe ich als Erster auf und hole Wasser am nahe gelegenen Bach. Dann mache ich Feuer im Herd und backe die Sesamfladen. Auch die Zubereitung der Frühstückssuppe gehört zu meinen Aufgaben. Es ist nicht leicht, fünfzig Menschen mit Essen zu versorgen. Alles muss in Kesseln gekocht werden, die so groß wie Badewannen sind. Und wer schrubbt und spült sie wohl hinterher? Vom ersten Sonnenstrahl bis zum Einbruch der Nacht wische ich die Böden, staube alles ab, putze die Treppen, fege den Hof, hacke Holz und schrubbe stundenlang auf Händen und Knien die knarrenden alten Dielen. Ich mache Marmelade und Würzsaucen. Ich lege Kürbis und Karotten ein, sorge für die richtige Menge Salz – gerade so viel, dass ein Ei im Wasser schwimmt. Wenn ich zu viel oder zu wenig Salz verwende, bekommt der Koch einen Wutanfall und zerschmettert alle Einmachgläser, und ich muss von vorn anfangen.
    Und obendrein muss ich bei all diesen Arbeiten auf Arabisch beten. Der Koch will, dass ich laut bete, damit er überprüfen kann, ob ich ein Wort überspringe oder falsch ausspreche. Und so bete ich und arbeite, arbeite und bete. »Je besser du die Mühsal in der Küche erträgst, umso schneller wirst du reif sein, Söhnchen!«, behauptet mein Peiniger. »Während du kochen lernst, gart deine Seele.«
    »Aber wie lange soll diese Quälerei denn noch dauern?«, fragte ich ihn einmal.
    »Tausendundeinen Tag«, lautete seine Antwort. »Wenn die Geschichtenerzählerin Scheherezade so lange Nacht für Nacht eine neue Geschichte erfinden konnte, wirst du es auch aushalten.«
    Das ist doch verrückt! Was habe ich mit dieser Plaudertasche Scheherezade zu tun? Die hat doch nur auf Samtkissen gelegen, hat mit den Zehen gewackelt, sich irgendwelche Fantasiegeschichten ausgedacht und den grausamen König mit süßen Trauben und ihren Hirngespinsten gefüttert. Und das soll Schinderei sein? Keine Woche hätte sie überlebt, wenn man ihr auch nur die Hälfte meiner Pflichten übertragen hätte. Ich weiß nicht, ob irgendwer mitzählt – ich jedenfalls schon. Genau 624 habe ich noch.
    Die ersten vierzig Tage meiner Probezeit verbrachte ich in einer Zelle, die so klein und niedrig war, dass ich mich weder hinlegen noch stehen konnte und die ganze Zeit auf dem Boden hocken musste. Wenn ich Verlangen nach ordentlichem Essen oder ein wenig Trost hatte, wenn ich mich vor der Dunkelheit oder der Einsamkeit fürchtete oder, Gott bewahre, unziemlich von einer Frau geträumt hatte, sollte ich mit den Silberglöckchen läuten, die als spirituelle Hilfe von der Decke hingen. Ich habe es kein einziges Mal getan. Was nicht heißen soll, dass es diese Gedanken nicht gegeben hätte. Aber was ist so schlimm an ein bisschen Ablenkung, wenn man sich nicht mal bewegen kann?
    Als die Zeit der Abgeschiedenheit zu Ende war, schickten sie mich in die Küche zurück, wo ich weiter

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