Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Dankeschön. Ich hätte auch für Sie gebetet, nur habe ich schon so lange nicht mehr an die Tür Gottes geklopft, dass ich nicht einmal mehr genau weiß, ob er dort überhaupt noch wohnt. Huch – habe ich jetzt wie der Wirt in Ihrer Geschichte gesprochen? Keine Sorge, so verbittert bin ich auch wieder nicht. Noch nicht.
Ihre Freundin aus Northampton
Ella
DER BRIEF
VON BAGDAD NACH KAYSERI, 29. SEPTEMBER 1243
Bismillahirrahmanirrahim,
Bruder Seyyid Burhaneddin,
Friede sei auf dir, Gottes Gnade und Sein Segen!
Mit großer Freude empfing ich deinen Brief, der mir mitteilte, dass du dem Weg der Liebe zugetan bist wie eh und je. Gleichzeitig brachte mich dein Schreiben in eine schwierige Lage. Denn sobald ich erfahren hatte, dass du Rumis Gefährten suchst, wusste ich, von wem du sprachst. Aber was ich nun tun sollte, das wusste ich nicht.
Unter meinem Dach lebte nämlich ein Wanderderwisch, Schams-e Tabrizi, der deiner Beschreibung bis ins Kleinste entsprach. Schams glaubte, eine besondere Aufgabe auf dieser Welt zu haben, und um diese zu erfüllen, war er von dem Wunsch beseelt, einen erleuchteten Menschen zu erleuchten. Er suchte weder Anhänger noch Schüler, sondern bat Gott um einen Gefährten. Einmal sagte er mir, er sei nicht für die gewöhnlichen Menschen gekommen. Er sei gekommen, um den Finger an den Puls derer zu legen, die die Welt zur Wahrheit führten.
Als ich deinen Brief erhielt, wurde mir klar, dass Schams dazu bestimmt war, Rumi zu begegnen. Um aber jedem meiner Derwische die gleiche Möglichkeit zu bieten, rief ich sie alle zusammen und erzählte ihnen, ohne in die Einzelheiten zu gehen, von einem Gelehrten, dessen Herz geöffnet werden müsse. Es gab zwar mehrere Anwärter, aber Schams war der Einzige, der auch dann noch bereit war, als ich von der Gefährlichkeit der Aufgabe gesprochen hatte. Das war im Winter. Das Gleiche wiederholte sich im Frühling und im Herbst.
Du magst dich fragen, warum ich so lange wartete. Ich habe gründlich darüber nachgedacht und kann dir offen gestanden nur einen einzigen Grund nennen: Ich habe Schams liebgewonnen. Die Vorstellung, ihn auf eine gefährliche Reise zu schicken, schmerzte mich.
Schams ist nämlich kein einfacher Mensch. Solange er ein Nomadenleben führte, hatte er alles einigermaßen gut im Griff, aber wenn er sich in einer Stadt aufhält und unter die Leute geht, wird er, fürchte ich, so manchen verärgern. Deshalb schob ich seine Reise so lange wie möglich hinaus.
Am Vorabend von Schams Abreise spazierten wir lange bei den Maulbeerbäumen umher, in denen ich Seidenraupen züchte. Man gibt alte Gewohnheiten nicht so leicht auf. Mit ihrer schmerzlichen Zartheit und erstaunlichen Kraft ähneln die Seidenraupen der Liebe. Ich erzählte Schams, dass die Raupen die von ihnen geschaffene Seide zerstören, wenn sie aus dem Kokon schlüpfen, und die Züchter sich deshalb zwischen der Seide und den Raupen entscheiden müssen. Fast immer töten sie die Raupen, wenn sie noch im Kokon sind, um die Seide unversehrt zu gewinnen. Für einen Seidenschal müssen Hunderte von Raupen ihr Leben lassen.
Der Abend neigte sich seinem Ende zu. Ein kühler Wind blies uns ins Gesicht, und ich fröstelte. In meinem hohen Alter erkälte ich mich oft, aber ich wusste, dass dieses Frösteln nichts mit meinen Jahren zu tun hatte. Mich fror, weil mir bewusst wurde, dass Schams nun zum letzten Mal in meinem Garten stand. Wir werden uns nie wiedersehen. Nicht in dieser Welt. Auch er spürte es offenbar, denn seine Augen blickten kummervoll.
Heute Morgen bei Sonnenaufgang kam er zu mir, küsste meine Hand und bat mich um den Segen. Zu meiner Überraschung hatte er sich das lange dunkle Haar gestutzt und den Bart abgenommen, gab mir jedoch keine Erklärung dafür, und ich fragte ihn nicht danach. Bevor er sich auf den Weg machte, sagte er noch, seine Rolle in dieser Geschichte erinnere an die Seidenraupe. Rumi und er würden sich in einen Kokon Göttlicher Liebe zurückziehen und ihn erst wieder verlassen, wenn die Zeit reif und die wertvolle Seide gesponnen sei. Doch damit die Seide überdauere, müsse die Raupe am Ende sterben.
Dann brach er nach Konya auf. Möge Gott ihn schützen! Ich weiß, dass ich das Richtige getan habe, und du auch, aber mein Herz ist schwer vom Kummer, und schon jetzt vermisse ich den außergewöhnlichsten, ungebärdigsten Derwisch, den das Haus meiner Bruderschaft je beherbergt hat.
Am Ende gehören wir alle Gott, und zu Ihm werden wir
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