Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Schönheit des Lebens auch seine Schwierigkeiten. Denn so lautete eine weitere Regel: Die Hebamme weiß, dass ohne Schmerz dem Kind der Weg nicht eröffnet werden und die Mutter nicht gebären kann. Auch die Geburt eines neuen Selbst kann nicht ohne Mühsal erfolgen.
Wie der Lehm durch große Hitze gehen muss, um fest zu werden, kann sich die Liebe nur im Schmerz vervollkommnen.
In der Nacht vor meiner Abreise öffnete ich alle Fenster meines Zimmers, um die Geräusche und Gerüche der Dunkelheit hereinzulassen. Im flackernden Licht einer Kerze schnitt ich mir das lange Haar. Es fiel in dicken Büscheln zu Boden. Dann schor ich meinen Bart und entfernte die Augenbrauen. Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Es wirkte jetzt heller und jünger. Ohne ein einziges Haar war es bar eines Namens, Alters und Geschlechts. Es hatte keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es war mit diesem Augenblick für immer versiegelt.
»Schon jetzt verändert dich die Reise«, sagte der Meister, als ich in sein Zimmer trat, um mich zu verabschieden. »Dabei hat sie noch gar nicht begonnen.«
»Ja, mir ist etwas klar geworden«, erwiderte ich leise. »Auch dies ist eine der vierzig Regeln: Die Suche nach der Liebe verändert uns. Unter denen, die die Liebe suchen, ist keiner, der nicht auf dem Weg zu ihr an Reife gewann. Sobald du die Liebe zu suchen beginnst, setzt deine innerliche und äußerliche Veränderung ein.
Kaum merklich lächelnd griff Baba Zaman nach einer mit Samt bezogenen Schachtel und reichte sie mir. Sie enthielt drei Dinge: einen silbernen Spiegel, ein seidenes Taschentuch und ein mit Balsam gefülltes Glasfläschchen.
»Diese Dinge werden dir auf deiner Reise helfen. Benutze sie, wenn es nötig wird. Solltest du jemals deine Selbstachtung verlieren, wird dir der Spiegel deine innere Schönheit zeigen. Falls dein Ruf einmal besudelt ist, wird das Taschentuch dich an dein reines Herz erinnern. Der Balsam aber wird deine Wunden heilen, die inneren wie die äußeren.«
Meine Hand fuhr sacht über jeden der drei Gegenstände, ich schloss die Schachtel und bedankte mich bei Baba Zaman. Dann gab es nichts mehr zu sagen.
Als im ersten Licht des Morgens die Vögel zwitscherten und winzige Tautropfen an den Ästen hingen, schwang ich mich in den Sattel und schlug den Weg nach Konya ein, ohne zu wissen, was mich dort erwartete, aber in vollem Vertrauen auf das Schicksal, das der Allmächtige mir bereitet hatte.
DER NOVIZE
BAGDAD, 29. SEPTEMBER 1243
B edacht darauf, nicht aufzufallen, folgte ich Schams-e Tabrizi auf meinem gestohlenen Pferd. Ich bemühte mich, genug Abstand zu halten, aber schon bald erwies es sich als unmöglich, hinter ihm herzureiten, ohne aufzufallen. Als Schams in einem Basar in Bagdad anhielt, um etwas zu essen und Proviant zu kaufen, beschloss ich, mich zu zeigen, und warf mich vor sein Pferd.
»Was machst du da am Boden, rothaariger Tölpel?«, rief Schams halb belustigt, halb erstaunt vom Pferd herunter.
Ich kniete mich hin, rang die Hände, reckte den Hals, wie ich es bei Bettlern beobachtet hatte, und flehte: »Ich möchte mit dir kommen! Darf ich dich bitte begleiten?«
»Weißt du denn überhaupt, wohin ich gehe?«
Ich zögerte. Diese Frage hatte ich mir nie gestellt. »Nein, aber das ist mir eins. Ich will dein Anhänger werden. Du bist mein Vorbild.«
»Danke, doch ich reise immer allein und will keine Anhänger oder Schüler. Und ich bin ganz sicher für niemanden ein Vorbild, am allerwenigsten für dich«, sagte Schams. »Geh deiner Wege. Aber solltest du dennoch nach einem Meister Ausschau halten, so rate ich dir, eine goldene Regel zu beachten: Es gibt mehr falsche Gurus und falsche Lehrer auf der Welt, als Sterne am Himmel leuchten. Machtgierige, ichbezogene Leute darf man nicht mit wahren Lehrern verwechseln. Ein wirklicher spiritueller Meister lenkt deine Aufmerksamkeit nicht auf sich und fordert keinen bedingungslosen Gehorsam oder äußerste Bewunderung von dir, sondern hilft dir vielmehr, dein inneres Selbst wertzuschätzen und zu bewundern. Wahre Meister sind durchsichtig wie Glas. Sie lassen das Licht Gottes durch sich hindurchscheinen.«
»Erlaube mir, es wenigstens zu versuchen«, bettelte ich. »Alle berühmten Reisenden hatten jemanden, der ihnen unterwegs beistand, eine Art Lehrling.«
Schams kratzte sich nachdenklich am Kinn. Offenbar hatte er etwas Wahres in meinen Worten erkannt. »Hast du denn die Kraft, meine Gesellschaft zu ertragen?«, fragte er.
Ich sprang
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