Die vierzig Tage des Musa Dagh
kämpfen, muß man zuerst leben. Ich schlage deshalb vor, daß wir die Besprechung des engeren Kriegsplans so lange verschieben, bis wir uns darüber klar geworden sind, auf welche Weise und wie lange ein Volk von fünftausend Menschen, von der Welt abgeschnitten, auf dem Damlajik leben kann.«
Gabriel, der schon im schönsten Schwunge gewesen war, ließ die Karte enttäuscht auf den Tisch fallen:
»Meine Ausführungen hätten zwar diese Frage mitberührt, da auf dieser Karte schon alles Lebensnotwendige eingezeichnet ist. Dennoch bin ich bereit, auf Pastor Tomasians Wunsch die Erörterung über die Kampforganisation zu verschieben …«
Bedros Altouni, der Arzt, hatte es nicht lange auf seinem parlamentarischen Sitz ausgehalten. Er wanderte brummend im Zimmer auf und ab, womit er wohl zu verstehen gab, daß er in dieser Stunde ungeheuerlichster Not Beratungen mit Handaufheben und Wort-Erteilen für ein überflüssiges Männerspiel halte. Seine verknurrte Unruhe stach lebhaft von der erhabenen Teilnahmslosigkeit Apotheker Krikors ab, dessen starres Dasitzen die Frage zu stellen schien: Wann werde ich aus dieser peinlich barbarischen Unterbrechung zu den einzig mir gemäßen höchsten Gegenständen des Daseins unbelästigt heimkehren dürfen? Während seiner ärgerlichen Rundgänge warf der Arzt eine Bemerkung hin, die gar nicht zur Sache gehörte:
»Fünftausend Menschen sind fünftausend Menschen, und Sonnenbrand und Wolkenbruch sind Sonnenbrand und Wolkenbruch.«
Gabriel Bagradian, dem das Problem der Stadtmulde, der Behausungsart, des Gesundheitswesens und der Kinderversorgung schon schlaflose Nächte bereitet hatte, nahm die Bemerkung des Arztes auf:
»Es wäre ratsam, wenigstens die Kinder von zwei bis sieben Jahren, um sie besser schützen zu können, in einer Sammel-Unterkunft zu vereinigen.«
Hier belebte sich der bisher schweigsame Ter Haigasun, um Gabriels Einfall mit großer Entschiedenheit zurückzuweisen:
»Das, was Gabriel Bagradian uns jetzt rät, würde der Beginn einer sehr gefährlichen Unordnung sein. Wir dürfen nicht auflösen, was Gott und die Zeit zusammengefügt haben. Im Gegenteil! Es ist höchst notwendig, daß die einzelnen Gemeinden, ja die einzelnen Familien voneinander dem Raume nach abgeschieden sind, so gut es eben geht. Jede Sippe soll ihre eigene Lagerstelle haben, jedes Dorf seinen eigenen Lagerplatz. Die Muchtars werden uns wie immer verantwortlich sein für die Ihren. So wenig wie möglich soll sich an den Verhältnissen ändern, die wir hier unten gewöhnt sind.«
Nachdrückliche Zustimmung von allen Seiten, die zugleich einen kleinen Mißerfolg Bagradians bedeutete. Ter Haigasun hatte ihnen eine möglichst genaue Annäherung an das gewohnte Leben gewährleistet. Diese Aussicht befriedigte die Unglücklichen tief. Denn alle Grausamkeit, die über bäurische Menschen hereinbrechen kann, ist in dem Worte »Veränderung« enthalten. Gabriel aber gab sich so schnell nicht geschlagen. Er ließ die Karte mit der eingezeichneten Stadtmulde herumgehen. Jedermann kannte die großen Hutweiden der Gemeindeherden. Daß diese weiten, steinlosen Grasflächen für das Lager einzig in Betracht kamen, leuchtete allgemein ein. Sie hätten nicht nur für tausend, sondern auch für zweitausend Familien Platz geboten. Gabriel kam Ter Haigasuns Wünschen geschickt entgegen. Die Einteilung der Familien- und Gemeindelager könne sehr leicht nach dem Sinne des Priesters durchgeführt werden. Auch er teile die Ansicht Ter Haigasuns. Hingegen aber müsse eingesehen werden, daß nicht jede von den tausend Familien einzeln wirtschaften könne, sondern daß es ohne einen großen gemeinsamen Haushalt nicht abgehen werde. Man berechne nur die Ersparnis an Nahrungs- und Feuermitteln, den Gewinn an freien Arbeitshänden. Abgesehen davon gebe es ja gar keine andre Möglichkeit, sich längere Zeit zu halten, als daß nach streng geregelter Vorschrift Vieh geschlachtet, Brot und Mehl verteilt, die Ziegenmilch an Kinder und Kranke ausgeschenkt werde. Um die heikle Frage des Eigentums komme man, trotz aller erdenklicher Sonderung des Familienlebens keineswegs herum. Wie er, Bagradian, selbst seinen ganzen Besitz, soweit er sich erreichen und befördern lasse, zur Verfügung der Gemeinschaft stelle, alles Vieh, das zur Wirtschaft gehört, alle brauchbaren Vorräte in Haus und Keller, – so werde auch jeder andere das Seine anheimgeben müssen. Die Umstände erforderten gebieterisch ein gemeinschaftliches
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