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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Zeit leer verstreichen zu lassen, keinen Bissen des Proviants ohne Skrupel zu genießen und jeden Herzschlag dem Ziele zu unterwerfen. Sie sollten weniger des unentrinnbaren Unglücks eingedenk sein als der grauenhaften Schmach, mit der die türkische Regierung das Armeniervolk beflecke:
    »Wenn es uns ein einziges Mal gelingt, die Türken den Berg hinab zu werfen, so haben wir nicht nur die Schmach gerächt, sondern haben sie entehrt und erniedrigt für immer. Denn wir sind die Schwachen und sie sind die Starken. Denn uns verhöhnen sie als Händler und sich selbst überheben sie als Krieger. Wenn wir sie nur ein einziges Mal schlagen, vergiften wir ihren Hochmut, so daß sie sich davon nie wieder erholen werden.«
    Was Gabriel und Aram von der Sache auch in Wirklichkeit halten mochten, sie sprachen immer und immer wieder von dem glorreichen Ausgang des Widerstands und hämmerten so in die bereitwilligen Seelen der Jugend fanatischen Glauben und, was nicht minder wichtig war, fanatische Zucht.
    So wenig Gabriel Bagradian etwas von seiner stählernen Körpernatur geahnt hatte, so wenig war er sich seiner Organisationsgabe bewußt gewesen. In der Welt seines bisherigen Lebens bedeutete »praktische Veranlagung« soviel wie plattes und habsüchtiges Denken. Mit erfolgreichem Ehrgeiz hatte er sich deshalb immer auf die Seite der Unpraktischen geschlagen. Nun aber gelang es ihm, dank seinen Vorarbeiten, schon in den ersten Stunden eine sinnreiche Einteilung des Heeres zu schaffen, feste Kader gleichsam, in die sich die Nachrückenden aus dem Tale dann leicht würden einfügen lassen. Er schuf drei Hauptgruppen: Ein erstes Treffen, eine große Reserve und eine Jugendkohorte der Halbwüchsigen zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren, die nur im Notfall, bei größeren Verlusten und an zerriebenen Fronten eingesetzt werden sollte, sonst aber den Späher-, Melde- und Läuferdienst zu besorgen hatte. Auf den vollen Stand gebracht, war die erste Linie mit achthundertsechzig Mann berechnet. Sie umfaßte abzüglich der Schwachen, Ganzuntauglichen und einer Anzahl der wichtigsten Professionisten alle Männer im Alter von sechzehn bis zu sechzig Jahren. In die Reserve sollte nicht nur der Rest der alten, noch arbeitsfähigen Männer eingeteilt werden, sondern auch eine beträchtliche Menge von Frauen und Mädchen, so daß dieses zweite Treffen zwischen tausend und elfhundert Menschen schwankte. Das dritte Glied, die Aufklärungstruppe der Jugendkohorte, die Kavallerie des Damlajik gewissermaßen, bestand aus mehr als dreihundert Knaben. Gabriel schickte am Morgen des zweiten Tages seinen Adjutanten Awakian hinunter in die Villa nach Stephan. Er war nicht sicher, daß Juliette ihn ohneweiters ausliefern werde. Der Student aber kam mit dem glückstrahlenden Jungen pünktlich zurück, den sein Vater sogleich in die Jugendkohorte einreihte. Von den achthundertundsechzig Mann der Kerntruppe konnten freilich nur dreihundert mit den vorhandenen Infanteriegewehren bewaffnet werden. Der größere Teil mußte sich leider mit Jagdflinten und den romantischen Feuerwaffen begnügen, die fast jedes Haus der Dörfer besaß. Auch Gabriel ließ alle brauchbaren Büchsen aus dem Waffenkasten seines Bruders verteilen. Es war ein besonderes Glück, daß die meisten Männer, nicht nur jene, die beim türkischen Militär gedient hatten, mit Gewehren umzugehen wußten. Dennoch aber mußte alles in allem die Bewaffnung der Kerntruppe kläglich genannt werden. Vier Züge regulärer Infanterie auch ohne Maschinengewehr waren ihr weit überlegen. Diese wichtigste Kampfschar war natürlich nicht als gestaltlose Masse gedacht, sondern zerfiel nach Gabriels Kriegsplan in feste Einheiten von je zehn Mann, in winzige Bataillone gewissermaßen, die selbständig bewegt und verwendet werden konnten. In der Einteilung sah er ferner darauf, daß jegliche von diesen Zehnerschaften aus Dorf-, ja womöglich aus Sippengenossen bestand, damit der stärkste Zusammenhalt in der Kameradschaft erreicht werde. Schwieriger schon stand es um die Kommandantenfrage, denn einem unter den zehn Männern jeder Einheit mußte die Führung anvertraut werden, so wie auch die größeren Verbände der Befehlshaber bedurften. Diese wählte Bagradian aus den gedienten Männern der verschiedensten Altersstufen aus. Der unschätzbare Tschausch Nurhan übernahm aber die Rolle eines Truppengenerals, eines Zeugmeisters, eines Festungsingenieurs und eines Exerzierlöwen in einer Person. Die

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