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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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und das große Evangelienbuch. Die Weihrauchgefäße, die silbernen Leuchter und Kruzifixe bettete der Sakristan in einen anderen Koffer. Zuletzt lag nur mehr die weiße Spitzendecke auf dem Altar. Ter Haigasun bekreuzigte sich ein letztes Mal, ließ seine Hände, deren Farbe den gelblichen Kirchenkerzen glich, unentschlossen eine Zeitlang über der Decke schweben, um diese dann mit einem plötzlichen Ruck abzuheben. Nackt starrte der Steintisch, den man einst aus dem grauen Kalkfelsen des Musa Dagh gebrochen hatte. In derselben Minute ließen die Bauarbeiter Vater Tomasians an Flaschenzügen die große und die kleine Glocke aus dem Seitenturm herab. Mühsam hoben sie dann das schwere Metall auf je eine Totenbahre, deren jede acht Männer zu Trägern hatte.
    Die Prozession eröffneten Ministranten mit dem hohen Stangenkreuz. Dann kamen die schwankenden Totenbahren mit den Glocken. Hinter ihnen schritt Ter Haigasun und die Priesterschaft. Es dauerte übermäßig lange, ehe der Trauerzug den Kirchhof von Yoghonoluk erreichte. Dieses Totengefolge schien wirklich ehrwürdige Leichen zum Grabe zu geleiten. Betäubende Hitze herrschte. Selten nur überkletterte ein Hauch vom Mittelmeer den Musa Dagh, um sich des syrischen Sommers zu erbarmen. An der Spitze der Prozession bildete ein laufender Staubwirbel den gespenstischen Vortänzer, eine beklagenswert dürftige Abart jener erhabenen Rauchsäule, die den Kindern Israel in der Wüste vorangezogen war. Der Friedhof lag weitab auf dem Wege nach Habibli-Holzdorf. Wie die meisten Totenorte im Orient erstreckte er sich auf einer geneigten Hügellehne und war von keiner Mauer umgeben. Dies, sowie die gestürzten oder schief im Boden versunkenen Grabplatten, in deren verwitterten Kalkstein Kreuz und Schrift roh gemeißelt waren, gaben ihm beinahe das Ansehen einer türkischen oder jüdischen Begräbnisstätte Kleinasiens. Als der Zug anlangte, flatterte es da und dort von den Grabgehäusen und Platten fledermausgrau auf. Es waren alte Weiber in zerzundernden Gewändern, die nur mehr durch die Substanzen von Staub und Schmutz zusammengehalten wurden. Greisinnen zieht es überall an solche Stätten. Auch im Westen kennt man diese ausdauernden Stammgäste des Todes, diese Beiwohnerinnen und Wächterinnen der Verwesung, die oft nur im Nebenamte betteln. Hier freilich in Yoghonoluk wars eine im Gräberschutt nistende, jedoch geschlossene Berufsklasse von Begräbnisfrauen, Klageweibern und Geburtshelferinnen, die nach dem sozialen Brauchtum der Dörfer am Rande der Volksgemeinschaft leben mußten. Ein paar blinde Bettelgreise mit biblischen Prophetenköpfen gehörten dazu, sowie einige Krüppel, phantastisch mißgestaltet, wie nur der Orient sie hervorbringt. Die Bevölkerung schützte sich vor ihrem eigenen Rassenabhub dadurch, daß sie ihn, in Ermanglung anderer Anstalten, an diesen Ort verbannte, der zugleich ein heiliger und unreiner Ort war. So kam es auch, daß kein Mensch zusammenschrak, als zwei wahnsinnige Frauen mit herzzerreißenden Kreischtönen den Friedhofshügel hinanflohen, um sich zu verstecken. War demnach der Kirchhof und seine Umgebung das Spittel-, Pfründner- und Irrenhaus von Yoghonoluk, so bedeutete er auch noch etwas anderes, den Verbannungsort der Magie. Die Fackel der Aufklärung in den Händen der Altouni, Krikor, Schatakhian und ihrer Vorgänger hatte die Zauberei aus den Dorfgrenzen vertrieben, aber nicht völlig vernichtet. Die Klageweiber unter der Führung von Nunik, Wartuk, Manuschak waren dem Hasse des Arztes bis hierher gewichen, aber nicht weiter. Hier warteten sie ihrer Aufträge, die sie nicht nur zur Bewachung und Waschung der Toten riefen, sondern weit öfter noch zu verstockten Kranken und Kindesmüttern, die der wissenschaftlichen Heilkunde Altounis weniger vertrauten, als den Kräutertränken, Beschwörungssprüchen und Gesundbetungen Nuniks, Wartuks, Manuschaks. Die Sache der Wissenschaft stand in diesem alten Kampf nicht immer zum besten, das ließ sich nicht verkennen, hatte doch der Aberglauben ihr gegenüber, was die Menge der Heilmittel und Heilweisen angelangt, einen unberechenbaren Vorsprung. Auch lag es im schartigen Wesen des Arztes, war er mit seinem Latein zu Ende, keinen trostreichen Schwulst von sich zu geben. Ein Wesen wie Nunik hingegen konnte gar nicht ans Ende ihrer Kenntnisse gelangen und beugte sich niemals vor dem Tode. Starb ihr ein bäuerlicher Patient, so hatte ers sich selbst zuzuschreiben, weil er in einer schwachen

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