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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Schicksale geboren werden. Es war ein ganz und gar besonnener Augenblick. Gabriel wußte genau, daß sein Leben, und nicht nur das seine, jetzt auf dem Spiele stand. Nachgeben, dachte er, zurücktreten, den Weg freigeben, bitte, und oben diesem Tier zehn Pfund zustecken … Während aber seine Vernunft mit solch leidenschaftsloser Klarheit arbeitete, schrie er noch lauter:
    »Zurück, Polizist! Ich bin Frontoffizier!!«
    Damit war der Muafin ans Ziel seiner Wünsche gelangt:
    »Offizier bist du? Nicht einmal ein stinkendes Hundeaas bist du für mich!«
    Mit raschem Zugriff packte er die silberne Medaille und riß sie vom Waffenrock des Armeniers. Bagradian behauptete später, er habe nicht an die Waffe gerührt. Tatsache aber wars, daß er im Nu auf dem Boden lag. Der Säbel schmetterte gegen die Wand. Ein Saptieh kniete auf Gabriels Brust und die anderen rissen ihm die Uniform vom Leib. Aus dem Selamlik stürzten die Frauen und Gonzague. Stephans Schreie vermischten sich mit dem kämpfenden Keuchen seines Vaters. Es dauerte keine Minute, und Gabriel lag bis auf seine Stiefel nackt da. Er blutete aus einigen Schrammen. Sein Leben war keinen Para mehr wert. Es wäre wohl verloren gewesen, hätte Gonzague Maris in diesem Augenblick nicht die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Seine Bewegung war lässig und doch von einschneidender Wirkung. Auch besaß er jene eindrucksvolle Stimmart, die in der Erregung eisige Ruhe gewinnt. Er hatte seine Dokumente hervorgezogen und hielt sie in die Höhe. Mit dieser Geste fing er alle Blicke ab. Der Müdir sah ihn betroffen an. Der Polizeivogt wandte sich ihm zu, und sogar die Saptiehs ließen von Gabriel. Gonzague entfaltete die Schriftstücke mit der überlegenen Würde eines von Ittihad entsandten Geheimagenten, der den Auftrag hat, die Gebarung der Landesbehörden überraschend zu beobachten:
    »Hier, Paß der Vereinigten Staaten, vom Generalkonsulat in Stambul vidiert!« Er betonte diese selbstverständlichen Worte mit vernichtender Schärfe, als enthülle sich in ihnen eine diplomatische Geheimsendung von entscheidender Wichtigkeit für die Türkei: »Hier, Teskeré fürs Innere mit eigenhändiger Unterschrift Seiner Exzellenz. Sie werden mich verstehen, Effendi.«
    Nicht die leere Drohung mit den Pässen rettete Bagradian das Leben, sondern der verzweifelte Trick, die plötzliche Ablenkung. Sie verwirrte den Müdir eine kurze Weile. In den Ausführungsbestimmungen der Deportation wurde mehrfach darauf hingewiesen, daß die Maßregel vor den Augen der verbündeten und neutralen Konsularvertreter aufs dichteste zu verschleiern sei. Im ersten Moment nahm der Müdir tatsächlich an, daß er es mit einem Vertrauensmann der amerikanischen Botschaft zu tun habe. Ein Blick auf den Paß aber überzeugte ihn von der Ungefährlichkeit des Einspruchs. Im übrigen war er sehr zufrieden damit, daß die Einmischung des Fremden Blutvergießen verhindert hatte. Er gab Gonzague die Papiere mit höhnischer Großartigkeit zurück:
    »Was gehen mich Ihre Pässe an? Schauen Sie, daß Sie von hier verschwinden! Sonst lasse ich Sie verhaften.«
    Die Verwirrung des Polizeivogtes hingegen legte sich nicht so schnell. Auf ihn machte Blut einen weit geringeren Eindruck als Papier. Er hatte während seiner Laufbahn mit Geschriebenem einige üble Erfahrungen gemacht. Man war in dieser Hinsicht der Folgen nie gewiß. Er beschloß also, diesen Bagradian vorläufig leben zu lassen. Auf der Landstraße konnte man die Sache viel einfacher und ohne Zeugen mit amerikanischen Pässen erledigen. Der Muafin steckte daher seinen Dienstrevolver, den er schon entsichert hatte, wieder in die Pistolentasche, betrachtete noch einmal mit seinem großen und seinem kleinen Auge den nackten Offizier, spuckte in weitem Bogen aus und gab seinen Saptiehs den kurzen Befehl:
    »Und jetzt holt die Pferde und Esel!«
    Der Müdir war um seinen effektvollen Abgang gekommen. Er mußte sich damit begnügen, ohne ein nachhaltiges Echo seiner Persönlichkeit zu hinterlassen, der bewaffneten Macht gedankenvoll und unbeteiligt nachzuschlendern.
    Schweratmend hatte sich Gabriel erhoben. Eine einzige Scham hämmerte unablässig in seinem Bewußtsein. Juliette hatte dieses Scheußliche erleben müssen, sie und Stephan. Seine Augen suchten die Frau, die in völliger Erstarrung ihr Gesicht abgewandt hielt. Gabriel schwankte, faßte sich wieder. In seinem Rücken spürte er einen Schauer: Iskuhi. Dann begannen die Wunden zu brennen. Es waren aber

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