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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Stunde Bedros Altouni gerufen und damit alle Bemühungen zunichte gemacht hatte. Für ihre Kunst war Nunik ein lebendiges Sinnbild. Es ging unter den Dorffrauen die Sage, daß sie zu Zeiten Awetis Bagradians, des Alten, ebenso siebzigjährig gewesen sei wie heute. Die Männer der Aufklärung hatten die Beschwörerinnen und Kurhexen verfolgt und aus dem Umkreis der Lebenden verjagt. Das hinderte diese aber nicht, außer ihrer offiziellen Klagetätigkeit, die Wohnstätte der Toten bei Nacht zu verlassen und ihren heimlichen Geschäften in allen sieben Dörfern nachzugehen. Zur Stunde jedoch waren sie alle auf dem Friedhof versammelt, um unter den Blinden und Bresthaften ihr Teil an Almosen entgegenzunehmen. Als sich der Trauerzug mit den Glocken dem Totenorte näherte, hatte sich Sato davongemacht und war vorausgelaufen. Sie besaß unter dem Gräbervolk schon längst ihre Freunde. Die am Rande wohnten, lockten die Randseele. Unter ihnen war es ja so leicht. Und im Hause Bagradian war es ja so schwer. Mochte das geschenkte Kleidchen der großen Hanum auch Satos eitlen Stolz entfachen, in Wirklichkeit würgte es sie doch samt Schuhen und Strümpfen und reinlicher Kammer wie ein Dressierhalsband. Mit den Bettlern und Klageweibern und mit den Wahnsinnigen konnte Sato in einer entfesselten Sprache Worte wechseln, die es nicht gab. Ah, die Sprache der Großen abstreifen wie einen drückenden Schuh, mit nackten Füßen reden dürfen, welch ein Glück! Nunik, Wartuk, Manuschak aber wußten von Geheimnissen zu erzählen, die Satos Sinn mit verwandten Schauern erfüllten, als hätte sie dergleichen selbst aus ihrem Ahnenleben mit in diese Welt gebracht. Da konnte sie stillsitzen und stundenlang zuhören, während die blinden Bettler neben ihr mit aufmerksamen Fühlfingern ihren mageren Kinderleib abtasteten. Wäre Iskuhi nicht gewesen, vielleicht hätte Sato die anderen auf den Damlajik ziehen lassen, um bei dem Friedhofvolk und in der Freiheit zu hausen. Die Glücklichen durften nicht mit ins enge Berglager. Der Führerrat hatte mit allen Stimmen gegen die von Gabriel Bagradian diesen Beschluß gefaßt. Letzterer wollte keinen Teil des Volkes ausgeschlossen wissen, obgleich er, als Oberbefehlshaber, am klarsten einsah, daß jeder überflüssige Fresser die Kampfkraft schwächte. Die Betroffenen schienen aber wegen des Ausschlusses weder unglücklich zu sein, noch auch die Türken besonders zu fürchten. Sie streckten den Volksgenossen ihre Hände und Gebrechen mit denselben Bettellitaneien entgegen wie immer.
    Der Himmel war so brennend nackt, daß auch nur die Vorstellung einer Wolkenflocke der Fabelei eines Märchenerzählers geglichen hätte. Dieses unerbittliche Blau schien schon seit den Zeiten der Sintflut keinen Regen mehr gekannt zu haben. Die Menschen drängten sich um das offene Grab, von den Glocken Yoghonoluks Abschied zu nehmen. In friedlichen Tagen hatte kaum einer mehr des gewohnten Läutens geachtet. Jetzt aber war es wie das Verstummen ihres eigenen Lebens. Als die Glockenmutter und die Glockentochter versanken, hörte man keinen Atemzug. Der erstickte Kupferton, den die herabrollenden Erdschollen verursachten, weissagte dem Volke, daß es keine Heimkehr mehr gab und keine Auferstehung für die Bestatteten. Nach einem kurzen Gebete Ter Haigasuns zerstreute sich die Menge schweigsam über den großen Kirchhof, und die einzelnen Familien suchten die Grabstätten ihrer Anverwandten auf. Auch Gabriel und Stephan traten in das Mausoleum der Bagradians ein. Es war ein kleiner niedriger Kuppelbau, einer Türbe ähnelnd, in der die Türken ihre Heiligen und Würdenträger beizusetzen pflegen. Großvater Awetis hatte den Gruftbau für sich und sein Weib errichten lassen. Der Stifter des Glanzes lag, nach altarmenischer Sitte, ohne Sarg, nur in sein Totenhemd gehüllt, unter den Steinplatten, die wie betende Hände schief zueinander geneigt waren. Außer ihm und der Ahne ruhte nur noch ein Dritter hier, Bruder Awetis, der Getreue Yoghonoluks, ein junger Toter noch. Mehr Platz gibt es auch nicht, dachte Gabriel, dem nicht feierlich, sondern merkwürdig spöttisch zu Mute war. Stephan aber trat gelangweilt von einem Fuß auf den andern, wie einer, der noch mehrere Ewigkeiten weit vom Tode entfernt ist.
    Ter Haigasun stand, von einer kleinen Schar umgeben, auf der Höhe der Hügellehne, dort wo das Totenland seine letzten Zungen vortrieb. Einige Männer hatten ein großes massengrabartiges Viereck ausgeschaufelt. Mit der

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