Die vierzig Tage des Musa Dagh
aufzustehen und den Spalt zu verhängen. Ich werde krank werden, hoffte sie, ach, wäre ich nur schon krank! Ihr Herz raste und drohte, vor unerfüllbaren Wünschen zu bersten. Sie sehnte sich nach Gabriel, doch nicht nach dem Gabriel wie er jetzt war, sondern nach dem Pariser Gabriel, nach dem feinfühligen Mann, der mit zärtlichem Takt sie stets hatte vergessen lassen, was nicht zu überbrücken war. Sie sehnte sich nach dem Gabriel in der Avenue Kléber, in der hellen Wohnung, wenn er sich wohlgelaunt mit ihr an den Frühstückstisch setzte. Sie sehnte sich nach dem eleganten Herrn im Abendanzug, der mit ihr die Theater besucht und die schimmernden Restaurants betreten hatte, immer voll feiner Bewunderung für sie, immer Juliette vorrückend, als sei sie etwas weit Höheres und Kostbareres als er, der Armenier. Ihre ferne Welt umdröhnte sie dumpf mit Autohupen, mit dem unterirdischen Gerassel der Metro, mit melodischem Geplapper, mit den Geräuschen, mit den Düften der vertrauten Läden und Warenhäuser. Sie bohrte ihr Gesicht ins Kopfkissen, als sei es das Einzig-Eigene, die Handbreit Heimat, die ihr verblieben war. Sie suchte sich selbst in dem zarten Geruch. Sie wollte die heimischen Bilder mit allen Sinnen festhalten. Doch es gelang ihr nicht. Rotierende Sonnenflecken drängten sich zwischen die geschlossenen Lider. Farbige Kreise mit bohrend starren Pupillen in der Mitte, Augen, leidende Vorwurfsaugen, die von allen Seiten auf sie eindrangen. Und siehe, es waren Gabriels und Stephans armenische Augen, die von ihr nicht abließen. Als sie aufsah, beugten sich diese Augen wirklich über sie, im wirren Bartgesicht eines Fremden. Sie starrte Gabriel erschrocken an. Ferne war um ihn, Nächte, im Freien verbracht, und der dumpfig feuchte Geruch von Erde. Seine Stimme klang eilig, wie zwischen zwei dringenden Pflichten:
»Bist du zufrieden, chérie? Fehlt dir nichts? Ich komme auf einen Augenblick, um nach dir zu schauen.«
»Mir fehlt nichts. Ich danke dir.«
Sie überließ ihm die noch traumbefangene Hand. Er saß eine Weile stumm neben ihr, als habe er nichts, was er mit Juliette besprechen könnte. Dann erhob er sich. Sie aber setzte sich zänkisch auf:
»Hältst du mich für so leer, für so materiell, daß du immer nur an das Äußerliche denkst?«
Er verstand sie nicht gleich. Sie aber schluchzte auf:
»Ich kann so nicht leben …«
Sehr ernst trat er zu ihr zurück:
»Ich verstehe, daß du so nicht leben kannst, Juliette. Man kann in einer Gemeinschaft nicht leben, wenn man sich ganz abseits stellt. Du mußt etwas tun! Geh in das Lager, versuche zu helfen, sei menschlich!«
»Es ist nicht meine Gemeinschaft …«
»Auch die meine ist es nicht so sehr wie du glaubst, Juliette. Wir gehören weniger dorthin, wo wir herkommen, als wo wir hin wollen !«
»Oder nicht hinwollen …« weinte sie.
Als er fort war, raffte sich Juliette auf. Vielleicht hatte er recht. So ging es wirklich nicht weiter. Sie bat Mairik Antaram, der Arzt möge sie bei der Krankenpflege im Lazarettschuppen beschäftigen. Der Gedanke, daß Zehntausende Französinnen heute in den Verwundetenhospitälern ähnliche Dienste leisteten, half ihr bei diesem Entschluß. Bedros Altouni stutzte zuerst, dann nahm er die Hilfe an. Juliette erschien noch am selben Tage in der Scheune, an der noch immer gearbeitet wurde, mit Schürze und Haube, wie es sich gehörte. Es gab Gott sei Dank nicht allzuviel Schwerkranke auf dem Damlajik. Ein paar Fiebernde lagen in Lumpen gewickelt, auf Decken und Matten, die noch von dem großen Unwetter her steif waren! Alte Leute zumeist. Ihr knapper Atem jagte, als seien sie nach langer Verfolgung hier zusammengebrochen. Graue, dunkle Gesichter, in einem fernen Lande schon. Nicht meinesgleichen, fühlte Juliette mit einem kleinen Erbarmen und einem großen Ekel. Sie erkannte ihre innere Untauglichkeit für solchen Liebesdienst. Es kam ihr wie eine Aufhebung ihrer selbst vor. Sie ließ für die Kranken alles Bettzeug aus den Zelten kommen, das nur halbwegs entbehrlich war.
Der vierte August verlief bis Mittag nicht anders als die vorangehenden Tage. Als Gabriel am frühen Morgen mit seinem Fernglas das Tal absuchte, lagen die Dörfer so still und verödet da, daß der Gedanke nicht unerlaubt erschien, es werde sich alles glücklich lösen, der Weltfriede demnächst geschlossen werden und die Rückkehr ins Leben gesichert sein. Bagradian verließ in hoffnungsvoller Stimmung die Beobachtungskuppe und
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