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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Obgleich Juliette, seitdem sie bei Doktor Altouni arbeitete, eine große Menge ihrer Vorräte, Konserven, Zucker, Tee, Reis dem Lazerettschuppen zur Verfügung gestellt hatte, besaß sie noch hinreichend viel Zwieback und Teegebäck, um sich und ihrer Umgebung über das fehlende Brot hinwegzuhelfen. Stephan bekam noch nicht die geringste Entbehrung zu spüren. Haik hingegen hatte sich schon über das ewige zähe Schaffleisch beklagt, das, nicht abgelegen, auf dem Feuer kaum gar gebraten, halb blutig noch, ohne jede Zutat hinuntergeschlungen werden mußte. »Hätte man wenigstens ein paar Aprikosen und Feigen«, seufzte er gierig. Stephan sah die weiten Obstgärten vor sich, die den Fuß des Musa Dagh bedecken. Er sagte vorläufig nichts.
    Der Tagesdienst der Jugendkohorte war weitverzweigt. Bei allen dreizehn Stellungen mußte immer ein Posten der Ordonnanzgruppe bereit sein, ebenso bei den zahlreichen Beobachtungsständen. Lehrer Schatakhian inspizierte seine Truppe täglich und veranstaltete zu überraschender Zeit Probealarm. Selbständige Unternehmungen größeren Formats konnten daher nur unter dem Schutz der Nacht durchgeführt werden, wenn man von Pflichten frei war und nicht beobachtet wurde. Noch im Laufe dieses neunten Tages entwickelte Stephan dem unnahbaren Haik seinen Plan, der verwunderlicherweise einem Fremden und keinem Einheimischen eingefallen war. Seit dem Aufbruch hatten sich zwar ein paar mutige Leute noch zwei- oder dreimal ins Tal gewagt, um die Vorräte zu ergänzen, waren aber stets unverrichteter Dinge zurückgekehrt, da in den Dörfern bei Tag und Nacht starke Gendarmerieposten patrouillierten. Stephans Plan ging dahin, durch einen nächtlichen Streifzug der Kohorte in die Obstgärten dem allgemeinen Notstand abzuhelfen. Haik sah seinen ehrgeizigen Nebenbuhler gemessen an, wie ein reifer Künstler einen vordringlichen Anfänger betrachtet, der von den Schwierigkeiten seines Vorhabens wenig ahnt. Dann aber nahm er die Organisation des heimlichen Ausfalls selbst in die Hand und stellte die Raubgruppe zusammen. Stephan hatte natürlich große Angst, daß Papa von seiner Teilnahme an dem Abenteuer erfahren und ihm daraufhin die Freiheit empfindlich beschneiden könnte. Er gestand auch diese seine Besorgnis. Haik aber, der schon vergessen zu haben schien, daß der ganze Plan nicht sein Eigentum war, erwiderte in dem unleidlichen Ton, den er so meisterhaft beherrschte:
    »Wenn du dich fürchtest, kannst du ja oben bleiben. Das ist viel besser für dich.«
    Diese Worte trafen Stephan ins Herz und er gelobte sich, keinen Gedanken mehr den Sorgen seiner Eltern zu widmen. Der Beutezug wurde noch in derselben Nacht ins Werk gesetzt. Etwa neunzig Burschen stahlen an Säcken, Butten, Tragkörben zusammen, was sich nur vorfand. Um zehn Uhr nachts, als die Feuer schon erloschen waren und alles sich schlafen gelegt hatte, schlichen sie sich in kleinen Gruppen aus dem Lager und an den Wachtposten vorbei über die schützende Grenze. In langen Sätzen stürmten sie den Berg hinab und erreichten, wie vom Winde getragen, in dreiviertel Stunden schon die ersten Gärten. Bis ein Uhr pflückten sie unterm Licht einer zarten Mondsichel die Früchte, Aprikosen, Feigen, Orangen, wie Rasende. Auch Stephan bewies dabei angelegentlich seine Körperkräfte, obgleich er das erstemal im Leben eine derartige Arbeit leistete. Haik, dem Führer, war es gelungen, von der Pflockstelle drei Esel loszubinden und mitzuzerren. Diesen wurden nun in wilder Eile die vollen Tragen aufgehuckt. Doch auch jeder von den Burschen schleppte ansehnliche Lasten auf dem Rücken. Es gelang ihnen knapp vor Sonnenaufgang wieder im Lager zu sein. Man empfing die Ausreißer, die in Unkenntnis der Gefahr um ein Nichts ihr Leben gewagt hatten, mit Vorwürfen, Beschimpfungen, ja Hieben und doch auch wieder mit Stolz. Stephan schlug, noch ehe die Stadtmulde erreicht war, einen Haken und schlich sich in das Scheichzelt, das er mit Gonzague Maris teilte. Gabriel und Juliette erfuhren nichts von dem gefährlichen Ausflug ihres Sohnes. Die ganze Ausbeute der nächtlichen Streifung kam für ein Volk von fünftausend Menschen kaum in Betracht. Dennoch aber gab sie dem Pastor Aram Tomasian die Anregung, in der drittnächsten Nacht mit zweihundert Reservisten und unter Bedeckung von zwei Zehnerschaften einen ähnlichen Versuch zu wagen. Leider hatte er nur einen geringen Erfolg. Denn gerade in der dazwischenliegenden Zeit waren die Bauern der mohammedanischen

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