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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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herrische Hochmut einer fest in sich beruhenden Urrasse, der ihn von den meisten Mitgliedern des Knabenrudels mit ihrer jähen östlichen Körperunrast deutlich unterschied. Mag der Armenier in den Städten seiner Diaspora dem verschlagenen Ulyss gleichen – nicht grundlos verschmelzt die Odyssee List und Heimatlosigkeit im Charakter ihres Helden –, der Kern- und Hoch-Armenier in den Bergen ist unduldsam und hochfahrend. Diese verletzenden Eigenschaften setzt er mitsamt seinem großen Betätigungsdrang der beschaulichen und trägen Würde der Türken entgegen. Aus dem Zusammenstoß solcher Grund-Charaktere läßt sich vieles erklären. Die Familie Haiks stammte aus dem Norden, aus dem Dokhus-Bunar-Gebirge, das schon in der Nähe der georgischen Grenze liegt. Seine Mutter, die Witwe Schuschik, war vor vierzehn Jahren mit dem Säugling eingewandert und hatte zwischen Yoghonoluk und Azir, außerhalb beider Ortschaften, ein Haus mit Obstgarten und Raupenzucht erworben, wo sie ganz allein ohne die geringste Hilfe wirtschaftete. Witwe Schuschik, eine blauäugige Riesin, war durchaus nicht beliebt, ja beinahe furchtsam gemieden. Obgleich sie so lange Jahre schon am Musa Dagh lebte, galt sie noch immer als Ortsfremde, denn das Volk von Yoghonoluk war, was die Einschmelzung Zugewanderter anbelangt, äußerst spröde. Fremde waren immer verdächtig und in sagenhafte Gerüchte eingehüllt. Von Witwe Schuschik ging die Sage, sie habe einst irgend einen Frechling, der Ungehöriges von ihr begehrte, ohne viel Umstände mit ihren gewaltigen Arbeiterhänden erdrosselt. Mochte dies nun wahr sein oder erfunden, der Knabe Haik war jedenfalls der Leibes- und Seelenerbe ihrer muskelharten Gestalt und ihres abweisend düsteren Wesens.
    Hochmütige Menschen verringern stets das Selbstgefühl der andern. Haik verringerte ständig Stephans Selbstgefühl. Er war schuld daran, daß der junge Bagradian sich immer neue Kraftbeweise abzwang, um »echt« zu werden. Der Wunsch, den finster skeptischen Haik von sich zu überzeugen, nahm, wie es bei feurigen Naturen dieses Alters die Regel ist, bitter quälende Formen an. Lehrer Schatakhian, der Höchstkommandierende der Jugendkohorte, rückte Stephan nicht nur in den Vordergrund, er machte ihm, dem Sohne Madame Juliettens, dem kleinen Franzosen, dem Kulturträger unter Wilden, auf alle erdenkliche Art den Hof. Er nannte ihn nicht anders als Monsieur Stephan, während er die andern mit rüden Beiworten bedachte. Er überließ ihm die Auswahl der zu leistenden Pflichten und schaltete ihn überall dort aus, wo die leiseste Gefahr zu vermuten war. Auch Samuel Awakian, sein alter Hofmeister, behielt ihn bei jeder Gelegenheit im Auge, um den Zögling vor dummen Streichen und Unheil zu bewahren. All diese Fürsorge wichtiger Persönlichkeiten beschämte Stephan, sie erniedrigte ihn vor Haiks Angesicht zu einem verweichlichten Herrensöhnchen und stellte seine schwererrungene Echtheit und Härte immer wieder in Frage. Das Ärgste aber war, diese Bevorzugung machte Haik immer noch überheblicher, denn Schuschiks Sohn ging der Wahrheit auf den Grund und seine erkennenden Augen ließen sich durch leere Gesten nicht betrügen. Wenn Stephan jetzt, von innerer Anspannung schlaflos, sich auf seinem Bette im Scheichzelt wälzte, arbeitete sein aufgewühltes Hirn: Gott, was kann ich nur tun, um es dem Haik zu zeigen!
    Dabei aber war der Kampf um Haik nur eine Front des Krieges, den die ehrgeizige Seele des Bagradian-Sohnes für ihren Ruhm führte.
     
    Zu dieser Zeit, es war der neunte Tag des Musa Dagh, begann sich im Lager der Mangel an Brot und Früchten, der fast ungemischte Fleischgenuß vorerst noch leise, aber doch schon unangenehm fühlbar zu machen. Die herrliche Harisa war nach dem Siegesfest am fünften Tage zu Ende gegangen; die Tonirs standen leer, denn der Führerrat hatte für eine Woche die Verteilung der geretteten Mehlreste eingestellt. Man vergrößerte die Fleischration, ohne das Mißbehagen dadurch beseitigen zu können. Nach einem strengen Erlaß war die Milchausgabe derart geregelt, daß lediglich die Kranken, Schwachen und Kinder bis zu zehn Jahren die mager fließende Ziegen- und Schafmilch erhielten, und nur ein unbeträchtlicher Teil für Butter- und Käsebereitung übrigblieb. Alles schimpfte auf die Gemeinwirtschaft und tatsächlich, nach einem unbegreiflichen Gesetz schien diese summarische Verwaltungsart das allgemeine Gut zu verringern und zu verschlechtern, anstatt es zu sparen.

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