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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Abstand von sechs Schritten nebeneinander stünden. Er habe nicht mehr als vierzehn schlafende Kanoniere gezählt und keinen Offizier darunter. Nur ein einziger Wachtposten sei aufgestellt.
    Haik hatte richtig gezählt. Das Schicksal dieser Haubitzen war auch der Grund, weshalb der arme Bimbaschi mit den Kinderwangen sich noch glücklich schätzen mußte, anstatt als General-Pascha seine Laufbahn als militärischer Rechnungsbeamter der anatolischen Eisenbahn zu beenden. Vor dem Kriegsgericht schwur er zwar bei Allahs Barmherzigkeit hundert Eide, daß er die im Reglement vorgeschriebene Geschützbedeckung nicht vergessen habe, sondern daß die verbrecherischen Saptiehs und Tschettehs sich ohne Erlaubnis aus dem Staube gemacht hätten. Obgleich diese Wahrheit erweislich war, half sie dem Guten nicht im geringsten. Er hätte die Pflicht gehabt, einen Zug der regulären Soldaten vor die Batteriestellung zu legen. Mit diesem Versehen aber war das Pech des Bimbaschi noch nicht erschöpft. Der Leutnant der Artillerie war nach dem Abzug der Infanteristen in seiner gänzlichen Befehlsverlassenheit und in Ermanglung eines auch nur halbwegs verläßlichen Unteroffiziers selbst zu Tal gestiegen, um sich die ordre de bataille für den nächsten Tag zu holen. Daraufhin aber waren auch die als Fahrkanoniere gedungenen Eseltreiber in der gesunden Meinung, man brauche sie des Nachts ja nicht, ohneweiters in die Dörfer verduftet. Angesichts solcher Feldmoral und der grausigen Begebenheit im Süden fiel das Urteil über den Bimbaschi noch unverhältnismäßig milde aus. Sonderbarer- und glücklicherweise griff Dschemal Pascha, »der schwarze bucklige Schwindler«, der sich sonst um jede Kleinigkeit kümmerte, diesmal nicht persönlich ein. Vielleicht waren die Suez-Sorgen des Feldherrn daran schuld, vielleicht auch noch ein andrer Grund, der mit dem Verhältnis des häßlichen Dschemal zu dem von der Welt vergötterten Enver in Stambul zusammenhing.
    Haik und zwei der tüchtigsten Späher kletterten auf Katzensohlen den Felsgrat jenseits des Sattels entlang. Stephan folgte ihnen etwas schwerfälliger. Hagop, der Einbeinige, hatte selbstverständlich zurückbleiben müssen. Sein Freund Stephan war es diesmal gewesen, der den ehrgeizigen Krüppel anherrschte, er solle doch endlich Ruhe geben. Sato lauerte in dieser Nacht nicht im Umkreis der Bande, weil sie mit wichtigen Gängen beschäftigt war. Stephan und Haik trugen Gewehre und Patronen bei sich, die sie von den Pyramiden und aus den Munitionsbeuteln der Zehnerschaften entwendet hatten. Ein fälliger Zwist war zwischen diesen beiden heute auszutragen. So oft nämlich Stephan, auf seine Schützenkunst pochend, behauptet hatte, er könne auf fünfzig Schritt aus einer Spielkarte den Kopf der Figur herausschießen, war Haik kalt und höhnisch geworden: »Du bist immer derselbe Aufschneider.« Jetzt galt es, dem Hochmütigen endlich zu beweisen, daß unter vielen wirklichen Prahlereien die Treffsicherheit des Schützen Stephan keine war. Und Stephan Bagradian führte diesen Beweis auf furchtbare Art.
    Haik zog den Stadtknaben durch die dichten Rhododendronbüsche bis an die Grenze der Batteriestellung. Zehn Schritte vor ihnen schnarchten die Schläfer. Der Posten blickte aus leeren Augen in den durch das starke Mondlicht sternlosen Nachthimmel. Zeit und Raum dehnten sich ahnungslos und voll Geduld. Stephan prüfte zuerst mehrere Äste, damit er den Lauf des Mausergewehres bequem auflegen könnte. Er zielte sehr lange und ohne Erregung, als seien die Gestalten dort nicht von Fleisch und Blut, sondern die ausgeschnittenen Jahrmarktpuppen einer Schießbude. Dieses Kind der europäischen Kultur war jetzt von keiner andren Regung erfüllt als von dem Ehrgeiz, die im Mond leuchtende Menschenstirn des Wächters vors Korn und das Korn richtig in die Visierscharte zu bekommen. Mit dem kältesten Herzen der Welt zog er das Züngel ab, empfand selbstbewußt Knall und Rückstoß und sah, mit sich herzlich zufrieden, den Mann zusammenbrechen. Als die Schläfer aufsprangen, nicht wissend, was hier vorging, zielte er schneller, aber um nichts unsicherer, und zog noch einmal, zweimal, dreimal, viermal das Züngel ab, immer wieder den Verschluß mit kräftigem Griffe spannend. Die fünfzehn Türken waren Redifs, ältere Männer, die von dem Sinn dieses Feldzuges kaum eine Ahnung hatten. Sie irrten durcheinander. Fünf Kameraden wälzten sich schon in ihrem Blute. Der Feind war unsichtbar. Da suchten

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