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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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aufzudrängen. Sie sprachen nicht von diesem Gefühl, das sich rasch und krampflos entfaltet hatte; sie küßten sich nicht. Sie gingen und gehörten einander. Iskuhi begleitete Gabriel dann bis in die Nordstellung hinaus. Als sie sich von ihm verabschiedet hatte, sah er ihr lange nach. Kein Wunsch regte sich in ihm, keine dunkle Bewegtheit, kein Skrupel, keine Zukunftsfrage. Zukunft? Lächerlich! Alles in ihm war schwerlose Fröhlichkeit. So leise zog sich Iskuhis Wesen zurück, daß ihn nicht einmal der Gedanke an sie störte, als er seine neue Abwehridee auszuarbeiten begann. Als sich später Stephan bei ihm meldete, vergaß er, den Jungen für seinen Ungehorsam zu bestrafen.
     
    Das neue Leben auf dem Musa Dagh zeitigte auch in konfessioneller Beziehung seine Folgen. Der Bekenntniswechsel war in den letzten Jahrzehnten im armenischen Volk beinahe zu einer Mode geworden. Insbesondere der Protestantismus hatte sich seit Mitte des vorigen Jahrhunderts durch amerikanische und deutsche Missionare mit zunehmender Kraft ausgebreitet. Es genügt schon, auf die ausgezeichneten Reverends von Marasch hinzuweisen, die sich durch ihre unermüdliche Bildungs-, Bau- und Fürsorgetätigkeit um die cilicischen und syrischen Armenier, mithin auch um die Heptapolis am Musa Dagh, große Verdienste erworben hatten. Ein sehr glücklicher Umstand jedoch muß es genannt werden, daß durch die Verschiedenheit der Bekenntnisse die Seele der Nation nicht wesentlich gespalten wurde. Das Christentum stand hier im schweren Kampfe, und dieser Kampf verhinderte alle Eifersüchteleien und gegenseitigen Überheblichkeiten. Pastor Harutiun Nokhudian von Bitias hatte in den sieben Dörfern seine Seelsorge frei ausgeübt und sich in allen großen allgemeinen Fragen dennoch der Autorität von Ter Haigasun Wartabed gebeugt. Auf dem Damlajik betreute Aram Tomasian als Nachfolger des alten Pastors die Seelen der restlichen Evangelischen, indem auch er sich der Autorität des Wartabed beugte. Dieser überließ ihm an jedem Sonntag nach der Messe den Altar für seine Predigt, bei der nicht nur die Protestanten, sondern zumeist das ganze Volk zuhörte. Der Unterschied im Ritus hatte alle Wichtigkeit verloren. Ter Haigasun war der unantastbare Hohepriester des Berges und verwaltete nicht nur als Vorgesetzter der kleinen verehelichten Dorfpfarrer, sondern ebenso als Oberer des Pastors das unsterbliche Teil des Volkes. Es war demnach selbstverständlich, daß ihn Aram Tomasian gebeten hatte, die heilige Taufe an seinem Neugeborenen vorzunehmen.
    Die Zeremonie war für den nächsten Sonntag, den vierten im August und den dreiundzwanzigsten Tag des Lagers, festgesetzt worden. Wegen des Gottesdienstes und anderer Pflichten Ter Haigasuns jedoch konnte sie erst in den späteren Nachmittagstunden stattfinden. Da sich Howsannah noch zu schwach und elend fühlte, um den Weg bis zum Altarplatz zurückzulegen, hatte Aram Tomasian den Priester ersucht, auf den Dreizeltplatz zu kommen und das Kind dort zu taufen, damit die Mutter bei der Feierlichkeit anwesend sein könne. Verabredungsgemäß ließ auch Gabriel Bagradian ungefähr fünfunddreißig Einladungen an die Notabeln und wichtigsten Abschnittsführer ergehen. Die Aufnahme dieses Erstgeborenen des Musa Dagh in die Gemeinschaft Christi bot ihm gute Gelegenheit, die führenden Personen des Volkes in Form eines Festes zu bewirten und sich neu zu verbinden. Er besaß noch neun Zehnliterkrüge des schweren heimischen Weines. Kristaphor mußte davon zwei für den Umtrunk absondern und außerdem noch einige Maß Maulbeerschnaps. Einen Imbiß konnte Gabriel seinen Gästen freilich nicht bieten, da der Proviant des Dreizeltplatzes schon beängstigend eingeschrumpft war.
    Die Gäste versammelten sich in der vierten Nachmittagstunde vor den Zelten. Für die Kindsmutter und die älteren Leute hatte man einige Stühle hergetragen. Der Kirchendiener stellte eine kleine Badewanne aus Blech auf einen niedrigen Tisch. Das uralte wunderschöne Marmor-Taufbecken gehörte zu jenen Schätzen, die in der Kirche zu Yoghonoluk zurückgeblieben waren. Ter Haigasun legte die heiligen Gewänder im Scheichzelt an. Ginkahaïr, Taufpate, war auf Arams Wunsch Gabriel Bagradian.
    Der Kirchenchor, unter des schneiderdürren Asajan Führung, hatte hinter dem Tisch mit dem Kruzifix und blechernen Wännchen Aufstellung genommen. Das laue Taufwasser war schon vor dem Altar geweiht worden. Jetzt träufelte unter den Gesängen des Chores einer der

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