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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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brauche dich nicht. Beim Umlegen kannst du ja doch nicht helfen. Es wird dir wohltun.«
    Iskuhi zögerte, weil sie die Heimtücke in Howsannahs Worten spürte. Da aber legte sich Mairik Antaram ins Mittel:
    »Schau, daß du weiter kommst, Sirelis, mein Liebchen! Und laß dich ja vor dem Abend nicht blicken! Das ist hier kein Leben für dich.«
    Vor dem Zelte erkundigte sich Gabriel Bagradian verwundert:
    »Was ist denn mit Ihrer Schwägerin geschehn, Iskuhi?«
    Sie blieb einen Augenblick stehen und sah an ihm vorbei:
    »Das Kind ist sehr elend. Howsannah fürchtet, daß es sterben wird.«
    Dann aber, im Weitergehen, wandte sie ihm ihr Gesicht zu:
    »Vielleicht ist es etwas andres … Vielleicht kommt ihr eigentlicher Charakter jetzt nach der Geburt heraus …«
    »Und früher haben Sie von diesem Charakter gar nichts bemerkt?«
    Sie dachte an die Wohnung im Waisenhaus von Zeitun und an die kleinen Zänkereien, die es dort gegeben hatte. Den verstockten und widerstrebenden Grundzug in Howsannahs Wesen hatte sie immer verspürt. Wozu aber von Howsannah sprechen? Sie überging seine Frage mit einer flüchtigen Bemerkung: »Hie und da schon …«
    Gabriel und Iskuhi nahmen die Richtung zur Stadtmulde, obgleich wenig Aussicht bestand, Julietten gerade dort anzutreffen. Sie schritten durch die engen Laubhüttengassen. Die Menschen saßen vor den Eingängen. Die Luft hier oben war angenehmer und kühler als jemals im Talgrund. Das Meer schickte heute den Hauch seiner langen Atemzüge mild herüber. Alles arbeitete. Die Frauen besserten Wäsche und Gewänder aus. Die älteren Männer der Reserve übten ihr Handwerk, besohlten Schuhe, hobelten Bretter, bearbeiteten Lamm- und Ziegenfelle. Nurhan Elleons Schmiede, Sattlerei und Patronenfabrik stand in starkem Betrieb. Wegen des hochaufschlagenden Feuers außerhalb der Lagerortschaft gelegen, wurde sie heute von Nurhan persönlich mitsamt seinen zwanzig Gesellen in hämmerndem, zischendem Gang gehalten. Der Bedarf an Nägeln und Stiften war allenthalben groß. Zerbrochenes Werkzeug und Grabgerät, hauptsächlich aber beschädigte Waffen mußten rasch instand gesetzt werden. Wie oft an solchen ruhigen Tagen erweckte der friedliche Arbeitslärm den Wahn, es herrsche auf dem Damlajik die einfache Ordnung von Kolonisten und keine Todesbedrängnis. Die Unbewußtheit der Minute, diese kindliche Kraft des Menschen, schien Gestern und Morgen überwunden zu haben. Die Gesichter waren zwar von Mühsal, schlechter Kost und Schlafmangel eingesunken, doch sie lächelten, als sie Bagradian und Iskuhi den Willkomm boten.
    Die beiden verließen das Lager. Nur Einsilbigkeiten sprachen sie. Gleichgültige Fragen, gleichgültige Antworten. Es war so, als lege jeder auf die Waagschale des andern immer nur ein winziges Gewichtchen, ein Granatkörnchen Seele gleichsam, damit das wunderbare Gleichgewicht nicht ins Schwanken komme. Sie gingen an den aufsteigenden Gipfelkuppen westlich entlang. Hier war alles kahl. Die milde Landschaft der Hochfläche zog sich zurück. Eine Leere öffnete sich, ohne Vogelstimmen, nur von ein wenig Wind überlaufen, damit der Mann und das Mädchen einander vernehmlicher würden. Gabriel sah Iskuhi nicht an. Es war so schön, sie unsichtbar neben sich zu fühlen. Nur wenn eine geröllige Stelle kam, beobachtete er entzückt das Zögern ihrer Füße, die reizend verlegen zu werden schienen. Dann hörte jedes Gespräch zwischen ihnen auf. Was wäre auch zu sagen gewesen? – Und es geschah, daß Gabriel die gebrechliche Gestalt neben sich immer schwerer werden spürte. Nein, nicht des Mädchens Körper, aber was? Ihm war, als gehe nicht nur die Iskuhi dieses Tages neben ihm, halb sichtbar, halb unsichtbar, sondern Iskuhi mit ihrer ewigen Herkunft und ihrem ewigen Hingang. Nicht ein blutjunges und hübsches Ding, sondern eine herrlich verkörperte Seele in ihrer zeitlosen Gesamtheit von Gott zu Gott. Wer aber vermöchte den allerseltensten, allerzartesten Augenblick auszusprechen, wenn ein Mensch gewürdigt wird, durch die flüchtige Lockung des Geschlechtes hindurch ein andres Wesen in seiner gottentströmten Einmaligkeit und Dauer zu berühren, wenn er die ganze Geschichte dieser Schwesterseele vom Anfang bis zum Ende der Welt während eines Atemzuges jäh in sich aufnimmt. Gabriel ergriff Iskuhis rechte Hand. (Sie ging wegen ihres lahmen Armes an seiner linken Seite.) Während sie gingen, überließ sie sich ihm schweigend, ohne etwas zurückzubehalten, ohne etwas

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