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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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bisher nie gezeigt hat …«
    Er winkte Iskuhi, sie möge zu Howsannah hineingehen. Das Mädchen blickte verzweifelt und unschlüssig zu Bagradian hin. Dieser bat den Pastor:
    »Können Sie Ihre Schwester nicht bei uns lassen, Pastor? Mairik Antaram ist ja im Zelt.«
    Tomasian öffnete einen Spalt des Türvorhangs:
    »Meine Frau hat dringend nach ihr verlangt. Vielleicht später, wenn Howsannah schlafen wird …«
    Iskuhi war aber schon verschwunden. Gabriel ahnte, daß die Pastorin nicht dulden wollte, daß während sie selbst so unsagbar litt, die junge Schwägerin nicht an ihr Leiden gefesselt sei.
    Auch während des nachfolgenden Festgelages konnten sich die Menschen von dem lastenden Eindruck dieser Taufe nicht befreien. Neben Juliettens Besuchstisch hatte Gabriel Bagradian noch einen zweiten langen Tisch mit Bänken aufstellen lassen. Dadurch ergab sich für diese gesellschaftlich äußerst empfindliche Klasse eine doppelte Behandlung, die eine größere Anzahl strebsamer Naturen verstimmte. An dem Besuchstisch nahm gewissermaßen der Adel, die Nacharars, Platz, während sich die Plebs an der groben Tafel mit sich selbst begnügen mußte. Dies war natürlich ein vollkommener Unsinn, denn die Zweiteilung stimmte gar nicht. An dem vornehmen Tisch saß nämlich nicht nur Ter Haigasun, das Ehepaar Bagradian, Pastor Tomasian, Apotheker Krikor, Gonzague Maris, sondern unverschämterweise auch Sarkis Kilikian, der Russe. Gabriel hatte den lumpigen Deserteur durch eine Einladung ausgezeichnet und ihn sogar neben sich sitzen lassen. Hingegen hatte Madame Kebussjan trotz eifrigster Bemühung bei den Honoratioren keinen Platz gefunden und mußte unter den anderen Muchtarinnen sitzen, denen sie doch durch den unvergleichlichen, wenn auch entschwundenen Reichtum ihres Gatten himmelhoch überlegen war. Auch dem Lehrer Oskanian war im Gegensatz zu seinem Kollegen Schatakhian die Ehre nicht widerfahren, einen Sitz am Würdetisch zu erwischen. Er aber packte kurzentschlossen sein Gewehr und ließ sich zu Füßen Juliettens, die an der Ecke saß, auf der Erde nieder. Mit ernster Strenge blickte er zu der bewunderten Französin empor. Seine vollgesogenen Augen schienen sie aufzufordern: So fragen Sie mich endlich doch nach meinen großen Taten, damit ich mit verächtlicher Bescheidenheit über sie hinwegsehen kann. Dies aber geschah ganz und gar nicht. Oskanian mußte im Gegenteil sich immer wieder vom Boden aufrappeln, um Julietten Platz zu machen, die mit sonderbarem Eifer heute die Hausfrau spielte. Sie ging alle fünf Minuten um den großen Tisch, sah nach den Trinkgefäßen, ob sie frischgefüllt seien, sprach mit den Gästen, ihr gebrochenes Armenisch zusammenscharrend, brachte den Muchtarfrauen süßen Zwieback und Schokoladetafeln. Niemand hatte diese Fremde jemals noch so gütig, ja beinahe demütig gesehen. Juliette schien durch ihre unaufhörlich freundliche Bemühung um Verständnis für sich bitten zu wollen. Ter Haigasuns Blicke verfolgten sie erstaunt unter den halbgeschlossenen Lidern. Gabriel Bagradian aber schien diesen Wandel, der ihn hätte beglücken müssen, am wenigsten zu bemerken. Er beschäftigte sich ausschließlich mit seinem Nachbarn, Sarkis Kilikian. Immer wieder winkte er Kristaphor oder dem Diener Missak, daß er das Gefäß des Russen vollschenke. Kilikian trank nur aus seiner Feldflasche. Das Glas, das vor ihm stand, hatte er weggeschoben. War es Eigensinn? War es ein tiefes Mißtrauen in der Seele des Ewig-Verfolgten? Gabriel wußte es nicht. Er versuchte mit ebensoviel Leidenschaft wie Mißerfolg in Kilikians Wesen einzudringen. Der gelangweilte Totenkopf mit den achatnen Augen brütete leer vor sich hin und gab die einsilbigsten Antworten der Welt. Gabriel fühlte das Bedürfnis, jenen Triumph, durch den er Kilikian einst gebändigt hatte, vergessen zu machen. Er war überzeugt, daß in dem Russen etwas ganz Besonderes stecke. Vielleicht verwechselte er nach Art mancher Leute, die im Wohlstand gelebt haben, Menschenleiden mit Menschenwert. Das Wohlverhalten des Deserteurs seit jenem Tage der Erniedrigung und seine kommandofähige Überlegenheit am vierzehnten August schien Gabriel recht zu geben.
    Es war eine äußerst komplizierte Art von Gefühlen, die ihn dem Russen gegenüber erfüllten. Er sah in Sarkis Kilikian einen Mann von einiger Bildung (drei Jahre Priesterseminar in Edschmiadsin), mithin keinen Proletarier und gewöhnlichen Asiaten. Er sah in ihm ferner den Mann eines

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