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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ungeheuerlichen Schicksals, das seine Züge so schauerlich ausgelaugt und seinen Blick in jungen Jahren schon getötet hatte. Gemessen an der Hartnäckigkeit dieses Schicksals wurde sogar das allgemeine armenische Leiden schattenhaft. Der Mann aber hatte das Schicksal gemeistert oder es zum mindesten überstanden, was für Gabriel schon den Beweis einer außergewöhnlichen Persönlichkeit bildete und ihm Ehrfurcht abzwang. Diesen bejahenden Gefühlen aber traten ebenso stark ängstliche und abgeneigte Empfindungen entgegen. Ohne Zweifel hatte Kilikian oft das Aussehen und das Wesen eines Schwerverbrechers, sein Lebenslauf schien nicht immer ganz unverdient gewesen zu sein, sondern in Entsprechung zu diesem Wesen zu stehn. Man konnte nicht genau wissen, hatte ihn das Zuchthaus zum Verbrecher gemacht, oder ein angeborenes Verbrechertum auf dem Umweg der Politik ins Zuchthaus geführt. Sarkis Kilikian war übrigens in keiner Faser der Typus des Revolutionärs sozialistischer oder anarchistischer Prägung. Für Ideale oder allgemeine Ziele schien er nicht den geringsten Sinn zu haben. Er war aber auch nicht rein böse, obgleich ihn ein Teil des Weibsvolkes seines Äußeren wegen für einen Teufel hielt. Daß er nicht rein böse war, will aber noch nicht bedeuten, daß er nicht in jeder Minute zu jedem Morde kaltblütig fähig gewesen wäre. Sein Geheimnis lag darin, daß er garnichts Ausgesprochenes war, daß er mit nichts und niemandem zusammenhing, daß er auf dem Nullpunkt einer unfaßbaren Neutralität lebte. Unter dem Volke des Damlajik war er neben Apotheker Krikor gewiß das asozialste Geschöpf. Der Russe bedrückte Gabriel tief, indem er ihn anzog. Die gemischten Gefühle aber flossen zu einer Art Liebe zusammen. Der »Ethiker Bagradian« wollte, so glaubte er wenigstens selbst, aus dem Deserteur einen Menschen machen, so etwa wie gewisse Männer die Einbildung hegen, Straßendirnen »retten« zu müssen. Es war einer der groben Fehler, die der militärische Führer auf dem Damlajik beging, daß er um Kilikian warb, anstatt ihn nach wie vor in unnahbarem Abstand und unter schärfster Aufsicht zu halten. Während Gabriel mit dem Deserteur sprach, fühlte er sich zu seinem eigenen Unbehagen befangen. Es gelang ihm nicht, den Ton zu treffen. Die undurchdringliche Apathie des anderen machte ihn unsicher. Er war wie jeder Redende gegenüber dem Schweigenden im Nachteil, so wie die Bewegung der Ruhe, das Leben dem Tode gegenüber im Nachteil, oder besser in einer buhlenden Lage sich befinden:
    »Ich freue mich, daß ich mich in dir nicht getäuscht habe, Sarkis Kilikian. Den Erfolg vom vierzehnten haben wir nicht zuletzt dir zu verdanken. Die Maschinen, die du konstruiert hast, waren ein prächtiger Gedanke. Deine Studien im Seminar sind dir dabei wohl eingefallen. Die Belagerungstechnik der Römer, wie …«
    »Keine Ahnung, davon weiß ich nichts«, grinste Sarkis.
    »Wenn die Türken es nicht mehr wagen werden, im Süden den Berg anzugreifen, so wird es auch dein Werk sein, Kilikian.«
    Dieses Lob schien auf den Russen einen leichten Eindruck zu machen, wenn auch keinen angenehmen. Seine stumpfen Augen streiften Gabriel:
    »Man hätte das noch viel besser machen können …«
    Gabriel spürte die unbestechliche Ablehnung durch Sarkis Kilikian. Zugleich ärgerte ihn seine eigene Schwäche, die solche Verneinung nicht erwidern konnte:
    »Du hast gewiß auf den Bohrtürmen von Baku die Erfahrungen eines Ingenieurs gemacht …«
    Der Russe betrachtete spöttisch seine Feldflasche:
    »Ich war nicht einmal Vorarbeiter dort, sondern ein ganz gewöhnlicher Hilfsarbeiter …«
    Gabriel Bagradian schob ihm Zigaretten hin:
    »Ich habe dich hierherbestellt, Kilikian, um dir meine Absichten mitzuteilen, die dich betreffen. Hoffentlich werden wir noch einige Tage Ruhe behalten. Früher oder später wird es aber zu einem Angriff kommen, gegen den alles Frühere ein Kinderspiel war. In diesem Kampf will ich dir einen sehr wichtigen Posten anvertrauen, mein Freund …«
    Kilikian leerte die Feldflasche bis auf den letzten Tropfen und stellte sie nachdrücklich hin:
    »Das ist deine Sorge und deine Sache. Du bist der Kommandant.«
    Der lange Plebejertisch war inzwischen in lärmende Bewegung geraten. Über die des Alkohols entwöhnten Menschen hatte sich Trunkenheit gesenkt. Auf Juliettens Geheiß war übrigens noch ein dritter Weinkrug entsiegelt worden. Zwei streitbare Parteien bildeten sich, die Optimisten und die

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